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Blumenberg fiel das Wort nervenexzentrisch ein, das Thomas Mann einmal zur Charakterisierung des Mittelalterlichen in ihrer beider Heimatstadt Lübeck gebraucht hatte. War er selbst inzwischen so nervenexzentrisch, daß er den Löwen nicht nur einmal, zweimal, sondern als annähernd fortwährenden Begleiter imaginierte?

Die hölzerne Statue des heiligen Johannes hing über dem Löwen an der Wand. Ein weiteres Objekt, das aus dem Kunsthandelsgeschäft des Vaters, aus der Hansestraße 6, mit nur minimalen Brandspuren davongekommen war. Kunstverlag J. C. Blumenberg, Import, Export, Lübeck; der Briefkopf in brauner Schrift kam ihm kurz vor die Augen. Johannes hielt ein aufgeschlagenes Buch in Händen, in dem er hingebungsvoll las; ungerührt an allem vorbei, was um ihn her geschah, wie er schon am Palmsonntag 1942 weitergelesen hatte, als nach einem Angriff der Royal Air Force die Trümmer herumflogen und ihn mit Schutt und Asche bedeckten. Über seinen frommen Augen waren die Lider gesenkt, Lider, in die winzige Zacken eingeschnitzt worden waren, um ihnen mehr Dynamik zu verleihen. Trotz der konzentrierten Pose des Evangelisten hatte die Kleidung etwas Beschwingtes. Es war, als wären unruhige Winde von unten in sein Gewand gefahren und hätten es an einigen Stellen zerzogen, an anderen gebauscht. Vielleicht murmelte Johannes, um ihn in der Sanftmut zu erhalten, dem Löwen Worte zu, schönere noch als diejenigen, die er in sein Evangelium hineingeschrieben hatte, und nur er, Blumenberg, war nicht imstande, das Gemurmel zu vernehmen.

Schräg über Johannes, nach der linken Ecke zu, verlief ein langer Riß in der Wand, entstanden, weil das Haus dem Hang nachgab und sich senkte, wobei die zum Garten hin gelegene Mauer der Belastung nicht mehr ganz gewachsen war. Eine Reparatur kam natürlich nicht in Frage, da hätte Blumenberg ja alles ausräumen und für Wochen, womöglich Monate aus seinem Arbeitszimmer ausrücken müssen — allein der Gedanke!

Daß der Löwe für sein Auftauchen keineswegs einen Riß in der Wand benötigte, die Atmosphäre für seine Verschwinde- und Erscheinungskünste andere Mittelchen bereithielt, litt keinen Zweifel, trotzdem bildete Blumenberg sich ein, der störende Riß sei jetzt endlich zu seiner wahren Bestimmung gelangt — Geistodem wehte, Geiststrahlen tasteten sich durch den Riß ins Zimmer. Er gratulierte sich dazu, daß er so stur gewesen war, jeden laut vorgetragenen Gedanken an eine Reparatur sofort abgeschnitten zu haben.

Optatus

Gerhard war schon als Jüngling zu einem glühenden Blumenbergianer geworden, auf dem Karlsgymnasium. Gerhard Optatus Baur, sein voller Name. Durch das fehlende e war der Nachname apart geworden, hatte sich vom Bäuerlichen entfernt und in etwas Künstliches verwandelt, wodurch das r am Schluß eine Betonung auf sich zog und wie ein Maschinchen im Leerlauf ausratterte. Obendrein war seine Mutter auf einen exzentrischen Mittelnamen verfallen, hatte den Säugling als Erwünschten und Ersehnten willkommen geheißen, einem Mann zu Ehren, der fast immer donnerstags gegen 12 Uhr 30 die Kantine der Württembergischen Landesbibliothek aufgesucht hatte.

Nein, Eberhard Optatus Schneckenburger war nicht der Vater des kleinen Optatus. Inzwischen ruhte der Gelehrte schon viele Jahre auf dem Stuttgarter Waldfriedhof unter einem Findling von der Schwäbischen Alb. Jahrzehnte hatte er die geistige Herrschaft über die schwäbische Landesgeschichte innegehabt, ihre Burgen, ihre Schlösser, ihre Stadtanlagen, die Regenten, Dichter, Philosophen, Erfinder und Ingenieure, die Obstbaumkultur, die Pachtzinsen, den Wein, Brände, Pest, Religionswirren und auch die Auftritte Goebbels’ in der Cannstatter Sporthalle, kurzum Herrschaft über den großen Erzählteig, der als Landesgeschichte aufquillt und sich zu einem besonderen Gebilde der Eigenwürde zusammenbacken läßt, auf den die Nachfahren eher stolz sind als nicht stolz. Seine Dienste waren auch bei der Stuttgarter Zeitung willkommen gewesen, wo er mit witzigen Stadtgeschichten ein treues, gar nicht so kleines Publikum in Lesehaft genommen und zu dessen Entzücken belehrt hatte.

Gerhards Mutter arbeitete als Köchin in der Kantine der Landesbibliothek, bisweilen auch an der Kasse. Den Dienst an der Kasse hatte sie donnerstags förmlich an sich gerissen, nachdem sie auf Schneckenburger aufmerksam geworden war und in Erfahrung gebracht hatte, daß er immer am selben Tag kam. Nicht, daß sie mit allen Fasern in ihn verliebt gewesen wäre — der Mann war viel zu alt für sie, fast schon ein Greis —, nein, sie liebte ihn aus den unfesten, aus dem Ungefähren anfliegenden Gründen der Sympathie, und weil er sie respektvoll behandelte. Seine dünne, fast kindliche Gelehrtengestalt, die im Alter noch rosige Haut, der weiße, wie bei einem Kakadu abstehende Schopf, die wackelnden Hände, die Mühe hatten, die richtigen Geldstücke zu finden, erfüllten sie mit fürsorglicher Zuneigung. Er war so ein gescheites Haus! Und riß königliche Witze über den Fraß, der aus den Nirostabecken von Schöpfkellen auf die Teller geklatscht wurde.

Gerlinde Baur war eine vorzügliche Köchin; ihr machte zu schaffen, was da tagtäglich zusammengepampst wurde, und sie war erfinderisch darin, den Gerichten wenigstens durch Würzbeigaben aufzuhelfen. Was den Einkauf und die Zubereitung der Speisen betraf, legte sie sich regelmäßig mit dem Küchenchef an, stieß bei ihm jedoch auf taube Ohren.

Schneckenburger schien jedenfalls auf den ersten Blick erkannt zu haben, daß da ein recht fein verfaßter Mensch an der Kasse saß. Er zwinkerte ihr alsbald zu, wenn er die donnerstägliche Linsen- und Spätzlekost und den wäßrigen Gurkensalat auf den Metallstreben ihr vor die Augen schob, während er darum bat, sie möge noch eine Prise Salz über die Bescherung streuen, damit seine Geschmacksknospen und der Magen leichter damit fertig würden.

Allmählich entwickelte sich das mit dem Salz zwischen ihnen zum Ritual. Könnte mir meine Salzmeisterin von ihrem Deputat eine Prise abzweigen? Nach ungefähr einem Jahr überreichte er ihr ein Geschenk: ein Salz- und ein Pfefferfäßchen aus blauem Glas, beide steckten in silbernen Flechtkörbchen, von denen sich feine Gespinste bis an die durchlöcherten Deckel hinzogen. Für Gerlinde war es das schönste Geschenk, das sie je bekommen hatte. Noch auf dem Totenbett im Robert-Bosch-Krankenhaus, auf das eine krebsverheerte Bauchspeicheldrüse sie allzu früh warf, nämlich mit vierundfünfzig Jahren, bat sie ihren Sohn, er möge doch die blauen Salz- und Pfefferfäßchen zu ihr in den Sarg legen.

Anfänglich hatte sie gar nicht gewußt, wer er war. Als an ihrem nächsten gemeinsamen Donnerstag zwei junge Kerle hinter dem alten Mann herwitzelten und dabei das Wort Optatusschreck fiel, erkundigte sie sich bei einer Bibliothekarin und erfuhr den vollen Namen des Professors. Optatus — bei diesen drei Silben gingen ihre Ohren spazieren.

Einige Monate nach dem Tod Schneckenburgers kam ihr Sohn zur Welt, und sie nannte ihn Gerhard Optatus. In dem Namen hörte Gerlinde etwas Großes, Optimistisches, Verheißungsvolles anklingen. Ein Federchen in ihr schien mit höheren Mächten zu kommunizieren. Die Einwände ihres Mannes, der lieber einen Fritz zum Sohn gehabt hätte oder einen Hans-Jörg, hatten kein Gewicht. Gerlinde wünschte sich, der Sohn möge ein Buchmensch werden, ein anderer Mensch als ihr Mann, der Tag für Tag, treppauf, treppab die privaten Zähler der Wasseruhren für die Wasserwerke ablas, abends in kamelhaarfarbene Hausschuhe schlüpfte und sich am Wochenende für wenig mehr als den VfB Stuttgart interessierte. Der Mann hielt sich nicht lange an Gerlindes Seite, denn er starb noch jünger als sie, mit einundvierzig Jahren, so daß Gerhard, der keine Geschwister, dafür die Mutter eine Zeitlang für sich allein hatte, mit sechs Jahren Halb- und mit einundzwanzig Jahren Vollwaise wurde.