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Doch woran dachte ich, bevor ich mich so sehend verlor? Ich weiß es nicht. Wille? Anstrengung? Leben? Das Licht bricht durch und läßt einen fast ganz und gar blauen Himmel ahnen. Doch keine Ruhe – ach, es wird sie nie geben! – auf dem Grund meines Herzens, diesem alten Brunnen am Ende des verkauften Landguts, Erinnerung an die mit Staub verschlossene Kindheit auf dem Dachboden eines fremden Hauses. Keine Ruhe – und ich verspüre, weh mir!, nicht einmal das Verlangen, sie zu finden …

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Ich begreife mein Verharren in diesem immer gleichen Leben, diesem Staub, diesem Schmutz an der Oberfläche des Nie-Veränderns einzig als ein Fehlen persönlicher Hygiene.

So wie wir unseren Körper waschen, sollten wir auch unser Schicksal waschen, das Leben wechseln wie Wäsche – nicht, um uns am Leben zu erhalten, wie durch Nahrung oder Schlaf, sondern aus jener wertfreien Selbstachtung, die genau wir Hygiene nennen.

Bei vielen Menschen ist dieser Mangel an Hygiene nicht etwa als bewußt gewollt zu verstehen, sondern vielmehr als ein Achselzucken ihres Intellekts. Und bei vielen ist ein immer gleiches stumpfsinniges Leben nicht auf eine freie Entscheidung zurückzuführen oder auf ein natürliches Sich-Schicken in eine ungewollte Existenz, sondern auf eine getrübte Wahrnehmung ihrer selbst, auf einen ironischen Automatismus ihres Intellekts.

Manchen Schweinen widerstrebt die eigene Schweinerei, dennoch lassen sie nicht ab von ihr, und zwar aus dem gleichen übersteigerten Gefühl heraus, aus dem ein verängstiger Mensch die Gefahr nicht flieht. Wie ich suhlen sich manche Schweine in ihrem Schicksal und lassen, fasziniert vom eigenen Unvermögen, nicht ab von der Banalität ihres Lebens. Sie sind wie Vögel, die allein der Gedanke an die Schlange fesselt, wie Fliegen, die blindlings Baumstämme umkreisen, bis sie in die klebrige Reichweite einer Chamäleonzunge geraten.

So führe ich mein bewußtes Unbewußtes langsam zwischen den Baumstämmen meines gewöhnlichen Lebens spazieren. So führe ich mein Schicksal spazieren, das seinen Lauf nimmt, da ich stehenbleibe; und meine Zeit, die vergeht, da ich stillstehe. Nichts rettet mich vor dieser Monotonie, nichts, bis auf meine kurzen Kommentare zu ihr. Zwischen den Gittern meiner Zelle sind Fenster, das reicht – ich schreibe auf das Glas, auf den Staub des Notwendigen, meinen Namen in Großbuchstaben, unterzeichne so täglich mein Abkommen mit dem Tod.

Mit dem Tod? Nein, nicht einmal mit dem Tod. Wer lebt wie ich, stirbt nicht: er vergeht, verwelkt, vervegetiert. Der Ort, an dem er war, bleibt, ohne daß er dort ist, die Straße, durch die er ging, bleibt, ohne daß man ihn dort sieht, das Haus, in dem er wohnte, ist bewohnt von nicht-ihm. Das ist alles, und wir nennen es nichts; aber nicht einmal diese Tragödie der Verneinung können wir spielen und zugleich mit Beifall bedenken, denn wir wissen nicht einmal mit Gewißheit, ob sie nichts ist, wir, Vegetierende der Wahrheit wie des Lebens, Staub auf Fensterscheiben, innen wie außen, wir, Enkel des Schicksals, Stiefkinder Gottes, der sich vermählte mit der Ewigen Nacht, Witwe des Chaos, dessen wahre Kinder wir sind.

Fortgehen aus der Rua dos Douradores hin zum Unmöglichen … Mich von meinem Schreibpult aufrichten hin zum Unbekannten … Aber zwischen all dies schiebt sich die Vernunft – das Große Buch, welches sagt, daß es uns gegeben hat.

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Die abstrakte Intelligenz macht müde, und diese Müdigkeit ist die schrecklichste von allen. Sie lastet nicht auf uns wie die Müdigkeit des Körpers und beunruhigt nicht wie die durch eine emotionale Erfahrung geweckte Müdigkeit. Es ist eine Last des Bewußtseins von der Welt, ein Nicht-mit-der-Seele-atmen-Können.

Dann zerreißen wie Wolken im Wind alle Vorstellungen, in denen wir das Leben gespürt haben, und aller Ehrgeiz, alle Pläne, in die wir unsere Erwartung an die Zukunft gesetzt haben, verwehen wie Asche und Nebel, Fetzen dessen, was nie war noch je sein könnte. Und mit der Nachhut dieser Niederlage erscheint rein die schwarze, unversöhnliche Einsamkeit des leergefegten, bestirnten Firmaments.

Das Geheimnis des Lebens schmerzt und erschreckt uns auf vielfache Weise. Manchmal überkommt es uns wie ein gestaltloses Gespenst, und die Seele erzittert vor der schlimmsten aller Ängste – vor der ungestalten Inkarnation des Nicht-Seins. Ein andermal steht es hinter uns, sichtbar nur, wenn wir uns nicht nach ihm umsehen, und es ist die Wahrheit, zutiefst entsetzt, daß wir sie nicht erkennen.

Doch der Schrecken, der mich heute vernichtet, ist weniger edel und zehrt mehr an mir. Es ist ein Verlangen, nicht denken zu wollen, ein Wunsch, nie irgend etwas gewesen zu sein, eine bewußte Verzweiflung aller Zellen des Körpers und der Seele. Das unvermittelte Gefühl, eingesperrt zu sein in einer unendlichen Zelle. Wohin die Fluchtgedanken richten, wenn allein die Zelle alles ist?

Dann packt mich ein überwältigender, absurder Wunsch nach einer Art Satanismus, vor Satan noch, ein Wunsch, daß sich eines Tages – ein Tag ohne Zeit und Substanz – ein Fluchtweg aus Gott heraus finden und das Tiefste in uns aufhören möge, ein Teil des Seins oder Nicht-Seins zu sein.

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Es gibt eine Schläfrigkeit, verbunden mit freischwebender Aufmerksamkeit, die ich nicht erklären kann und die mich häufig überfällt, falls man von etwas so Abstraktem überhaupt sagen kann, daß es einen überfällt. Ich gehe durch eine Straße, als säße ich, und meine stets wache Aufmerksamkeit ist träge wie ein rundum ruhender Körper. Ich wäre nicht imstande, einem mir Entgegenkommenden bewußt auszuweichen. Ich wäre nicht imstande, mit Worten oder auch nur für mich, in Gedanken, eine Frage eines zufällig meine Zufälligkeit Kreuzenden zu beantworten. Ich wäre nicht imstande, einen Wunsch, eine Hoffnung zu hegen, irgend etwas, das eine Bewegung meines, wenn ich so sagen darf – Gesamtwillens darstellte, oder gar meines Teilwillens, wie er jedem Element eigen ist, aus dem ich bestehe. Ich wäre nicht imstande zu denken, zu fühlen, zu wollen. Und ich gehe, gehe weiter, gehe umher. Nichts an meinen Bewegungen (ich bemerke, was andere nicht bemerken) läßt den Stillstand erkennen, in dem ich mich bewege. Und dieser Zustand seelischer Abwesenheit, der für einen Liegenden oder Lehnenden bequem, weil natürlich wäre, ist für einen Menschen, der auf der Straße geht, merkwürdig unbequem, ja, sogar schmerzlich.

Es ist, als sei man trunken vor Trägheit, betrunken, ohne Freude am Trinken noch an der Trunkenheit. Es ist, als sei man krank, ohne Hoffnung auf Genesung. Ein heiteres Sterben.

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Ein leidenschaftsloses, kultiviertes Leben leben, im Freien der Ideen, lesend, träumend und ans Schreiben denkend, ein Leben, so hinlänglich langsam, daß es stets dem Überdruß nahe kommt, doch hinreichend überlegt, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Dieses Leben fern von Gefühlen und Gedanken leben, nur in Gedanken an Gefühle und an die Gefühle der Gedanken. Golden stillstehen in der Sonne wie ein dunkler, von Blumen gesäumter See. Im Schatten so einzigartig vornehm sein, nichts zu verlangen vom Leben. In der Volte der Welten Blütenstaub sein, aufgewirbelt von einem ungekannten Wind in die Nachmittagsluft und von der reglosen Abenddämmerung fallen gelassen an einem Zufallsort, sich verlierend unter größeren Dingen. Dies alles in sicherem Wissen sein, weder heiter noch traurig, der Sonne dankbar für ihren Schein und den Sternen für ihre Ferne. Nicht mehr sein, nicht mehr haben, nicht mehr wollen … Die Musik des Hungrigen, das Lied des Blinden, das Andenken des unbekannten Wanderers, die Spuren des Kamels in der Wüste, ohne Last noch Ziel …