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Liebe Kinder,

gestern hatte ich überraschenden Besuch. Es klingelte. Ich öffnete. Und wer stand draußen? Der Schüler Jakob Hurtig aus der Kickelhahnstraße 17, Erdgeschoss links. »Unverhofft kommt oft«, erklärte er vergnügt.

»Treten Sie näher, Herr Unverhofft«, sagte ich, und dann marschierten wir erst einmal in die Küche. Denn dort steht der Eisschrank. »Du bist ja schon wieder gewachsen«, stellte ich fest.

»Was bleibt einem jungen Menschen weiter übrig?«, fragte er. »Das bisschen Schule, die paar Hausaufgaben, die kleinen Besorgungen für die liebe Mutter, die englische Privatstunde, der Turnverein, das Zähneputzen, das Schuheputzen, das Naseputzen, das Füßewaschen, das Nägelschneiden, das Haarekämmen, was ist das schon? Was, um alles in der Welt, soll man in der übrigen Zeit tun? Da ist Wachsen noch das Gescheiteste.«

»Freilich.« Ich nickte. »Außerdem hat man’s dann hinter sich. Aber Wachsen macht hungrig. Wie wär’s mit einem Sülzkotelett? Oder bist du satt?«

Jakob schielte kurz zum Eisschrank hinüber. Anschließend blickte er mir fest in die Augen und sagte: »Man soll nicht lügen.«

Nachdem er das Sülzkotelett vertilgt hatte, meinte er seufzend: »Ungewöhnlich schmackhaft«, wischte sich den Mund, wickelte den Kotelettknochen in die Papierserviette und fügte erläuternd hinzu: »Falls ich auf dem Nachhauseweg einen Hund treffe.«

»Noch ein Sülzkotelett?«, lockte ich. »Es ist noch eines im Eisschrank.«

»Danke nein«, sagte er. »Mein Magen ist vorübergehend wegen Überfüllung geschlossen. Außerdem bin ich ja nicht zu meinem Vergnügen hier. Ich habe den dienstlichen Auftrag, Ihnen tausend Grüße zu überbringen und einen Kuss auf die Nasenspitze zu geben.« Er stopfte den Kotelettknochen in die Hosentasche, rutschte verlegen auf dem Küchenstuhl hin und her und fragte nach einer Weile: »Ist es Ihnen recht, wenn wir die Sache mit der Nasenspitze weglassen? So was liegt mir nicht besonders.«

»Mir auch nicht«, gab ich zu. »Aber wer lässt mich denn, ob nun mit oder ohne Nasenspitze, tausendmal grüßen?«

»Natürlich Mäxchen«, sagte Jakob. »Er hat mir einen langen Brief geschickt. Zehn Seiten in Briefmarkengröße! Mir tun jetzt noch die Pupillen weh.«

»Er konnte den Brief doch der Rosa Marzipan in die Maschine diktieren!«

»Nein. Das konnte er nicht!«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Weil sie im Bett liegt und ein Baby gekriegt hat. Einen Jungen.«

»Das ist eine gute Idee!«, rief ich. »Und wie heißt der Knabe?«

»Er heißt überhaupt noch nicht. Rosa will ihn Daniel nennen, aber der Jokus ist für Ferdinand.« Jakob kicherte. »Dabei hat ihnen Mäxchen einen bildschönen Vorschlag gemacht! Doch sie waren beide dagegen.«

»Das klingt verdächtig.«

»Weil der Vater Jokus von Pokus heißt, sollten sie den Sohn Joküsschen von Poküsschen nennen!«

»Ich habe es schon immer vermutet«, sagte ich, »und nun weiß ich’s endgültig: Mäxchen ist ein Ferkel.«

Jakob kicherte unverdrossen weiter. Er hörte erst auf, als ich ihn schräg ansah und kaltblütig erklärte: »Wer jetzt weiterlacht, kriegt keine Limonade.«

Die Limonade trank er drüben im Arbeitszimmer, während er an den Regalen entlangschob und die Buchtitel studierte. Plötzlich blieb er stehen, schlug sich mit der Hand vor die Stirn, dass es nur so klatschte, und sagte verbittert: »Da haben wir’s - ich werde alt.«

»Man soll nichts übereilen«, gab ich zu bedenken. »Warte damit wenigstens bis zur Konfirmation.«

»Ich werde alt und vergesslich«, fuhr er fort. »Und was vergesse ich jedes Mal? Ausgerechnet die Hauptsache!«

»Es muss auch alte Knaben geben«, sagte ich, um ihn zu trösten. »Trotzdem wüsste ich ganz gern, welche Hauptsache du diesmal fast vergessen hättest.«

Jakob trank sein Glas leer, stellte es aufs Fensterbrett, holte tief Luft, als wolle er Schillers >Lied von der Glocke< aufsagen, und begann: »Mäxchen schreibt, Sie hätten ihm im vorigen Jahr versprochen, die Geschichte vom kleinen Mann fortzusetzen und ...«

»Stimmt«, meinte ich. »In Lugano. Auf der Terrasse. Rosa Marzipan und der Jokus saßen dabei. Und Mrs. und Miss Simpson auch. Es gab Pfirsichbowle. Der Vollmond schien. Unten auf dem See wurde das große Feuerwerk abgebrannt, dass es nur so zischte und krachte. Der Himmel und das Wasser schillerten in allen Farben. Es war wunderbar. Und als der Jokus, nach dem Feuerwerk, die Lampen auf der Terrasse wieder anknipste, stellten wir fest, dass Mäxchen fehlte. Er war im Dunkeln an meinem Glas hochgeklettert und versehentlich hineingefallen. Wir fischten ihn heraus. Er war klitschnass, hatte einen Schwips und roch drei Tage lang nach Pfirsichbowle.«

Jakob Hurtig starrte mich an, sagte ehrfürchtig: »Mann, haben Sie ein Gedächtnis!« und setzte hinzu: »Das soll sonst nur noch bei Elefanten vorkommen!«

»Du bist der geborene Schmeichler«, antwortete ich. »Doch davon abgesehen: An jenem Abend habe ich ihm tatsächlich versprochen, den zweiten Band zu schreiben. Glaubt er, ich hätte mir’s anders überlegt? Hm?«

»Ich ... ich weiß nicht recht.« Jakob druckste herum und bekam vor Verlegenheit rote Ohren. »Er scheint sich einzubilden, Sie säßen lieber am Fenster oder in Cafes oder ... oder Sie gingen lieber bummeln und blieben lieber vor Schaufenstern stehen oder an Gartenzäunen und .«

»Ich ahne Fürchterliches«, sagte ich. »Der Bursche hält mich für ein ausgemachtes Faultier.«

»Also, das Wort >Faultier< kommt in seinem Brief kein einziges Mal vor. Nicht einmal >Faulpelz<. Das schwöre ich bei meinem Schulranzen!«

»Aber vielleicht das Eigenschaftswörtchen >faul<, ja?«

»Das wäre möglich«, gab Jakob zögernd zu. »Er hat sich allerdings sehr hübsch ausgedrückt. >Ich glaube<, hat er geschrieben, >unser edler Dichterfürst ist ziemlich faul geworden.<«

Als ich das hörte, musste ich lachen. Jakob stimmte erleichtert ein. Dann fragte er: »Wann werden Sie denn nun mit dem Schreiben loslegen?«

»Ich habe bereits losgelegt«, erklärte ich triumphierend und warf mich so stolz in die Brust, dass die Rippen knackten. »Dort auf dem Schreibtisch liegt das erste Kapitel. Die Schreibmaschine qualmt noch.«

Jakobs Augen glitzerten vor Neugierde. »Darf ich’s rasch mal lesen?«

»Nein. Unfertige Sachen zeig ich nicht her.«

Er blickte gebannt zum Schreibtisch hinüber. »Schade. Kolossal schade. Denn nun wird Mäxchen denken, Sie hätten es mir bloß nicht gezeigt, weil es gar nicht das erste Kapitel ist, sondern ganz was anderes!«

»Jakob Hurtig«, sagte ich hoheitsvoll, »du bist kein vornehmer Charakter. Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt. Noch dazu mit einem Sülzkotelett und kühler Limonade.«

Der Junge fragte geknickt: »Soll ich mich fortscheren?«

Ich schüttelte mein graues Haupt. »Nein. Du sollst, zur Strafe, auf der Stelle das erste Kapitel des zweiten Bandes vom kleinen Mann lesen.«

Und schwupp, schon saß er drüben, nahm das Manuskript in beide Hände und begann laut und vernehmlich: »Das erste Kapitel. Kriminalkommissar Steinbeiß beißt auf Granit. Bernhard hat einen Komplex, und .«

»Lies leise, Jakob!«, sagte ich nervös. »Ich kann den Text schon singen.« Dann zündete ich mir eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster.

Schließlich hatte er es geschafft, legte das Manuskript behutsam auf den Schreibtisch zurück, nickte und meinte: »Genauso war es. Sogar der Schüler Hurtig kommt wieder vor. Mehr kann man nicht verlangen.«

»Ehre, wem Ehre gebührt«, stellte ich fest. »Wer weiß, was damals aus dem kleinen Mann geworden wäre, wenn du nicht aus dem Fenster geschaut hättest!«