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«Nein, das bin ich nicht», leugnete ich, «ich möchte nur, dass du dich von Kritias fernhältst. Er ist ein gefährlicher Mann.»

«Was soll an ihm denn gefährlich sein? Er ist ein netter älterer Herr, liebenswürdig und humorvoll», entgegnete Lykon.

«Du sprichst über ihn, als kenntest du ihn schon länger», bemerkte ich misstrauisch.

«Aber woher sollte ich ihn denn kennen?», antwortete mein junger Liebhaber. «Du siehst Gespenster.»

Ich schwieg und betrachtete Lykon genauer. Er war jetzt knapp dreizehn Jahre alt und beinahe so groß wie ich. Bald würde er in das Alter kommen, in dem er die Aufmerksamkeit der Männer verlor. Auf seiner Oberlippe stand dunkler Flaum, und die Haare an seinen Beinen wurden allmählich kräftiger. Im Moment war er zwar noch viel zu hübsch mit seinem schmalen Körper, seinen kurzen Locken und den langen Wimpern über den dunklen Augen, die er so unschuldsvoll aufzuschlagen verstand, als dass er sich deswegen Gedanken machen musste, aber das würde nicht so bleiben. Hatte ich ihn ausreichend vorbereitet auf sein Leben als Mann, wie es meine Aufgabe als älterer Liebhaber war?

Ich kaufte für uns eine Schale in Honig kandierter Nüsse und süßer Feigen. Ich wollte nicht streiten und bat Lykon, ein wenig mit mir zu essen. Wir setzen uns auf die Stufen vor dem Ares-Tempel, genossen das Obst und die Nüsse und beobachteten das Treiben der Menge.

«Weißt du, wer Kritias ist?», fragte ich nach einer Weile.

«Nein», antwortete Lykon und zuckte mit den Schultern.

«Er ist das Oberhaupt der reichsten Familie Athens. Aber das ist nicht alles. Es ist die Familie des früheren Königs. Verstehst du?»

«Ja, und?», antwortete Lykon unaufrichtig.

«Was ich dir sagen will, ist, dass diese Familie meint, Athen gehöre ihr.»

Lykon nickte, aber er hörte mir nicht zu. Er langweilte sich, das war offensichtlich. Er sah gleichgültig auf den Platz und spuckte ein Stück Schale aus. Vielleicht war heute nicht der Tag, um über die Demokratie Athens zu sprechen. Vielleicht war ein Athen, das einen Alkibiades zum Führer erhoben hatte, auch nicht immer ein leuchtendes Beispiel, aber Lykon sollte immerhin wissen, wer dieser Kritias war, der ihm da Avancen gemacht hatte. Ich wollte gerade noch einmal ansetzen, als ein paar Jungen in Lykons Alter vorbeigingen. Sie winkten uns zu - oder vielmehr meinem hübschen Freund - und fragten, ob wir nicht mitkommen wollten. Es sollte zum Dionysos-Theater auf der anderen Seite der Akropolis gehen, wo irgendein Satyrspiel geprobt wurde. Sie wollten heimlich zusehen.

«Na, geh schon!», sagte ich zu Lykon, der seinen Kameraden allzu sehnsuchtsvoll hinterhersah. «Ich muss sowieso arbeiten.»

Kaum hatte ich das gesagt, verabschiedete er sich auch schon mit einem flüchtigen Kuss auf meine Wange und sprang davon. Ich aß die restlichen Nüsse, brachte die Schale zurück und machte mich auf zu meinem Onkel.

Raios besaß eines der schönsten Häuser im Viertel der Schmiede, gleich neben dem Hephaistos-Tempel, den diese Zunft der Stadt gespendet hatte. Es war zweistöckig und weiß getüncht wie die anderen Häuser, aber sicher doppelt so groß, was den Neid aller Nachbarn erregte. Im Keller hatte Raios seinen Laden und seine Werkstatt, die durch ein Eichentor, vergitterte Fenster und kräftige Sklaven vor allzu großen Begehrlichkeiten geschützt waren. Er beschäftigte vier Schmiede und ihre Söhne als Gehilfen; keiner von ihnen war Vollbürger, sodass sie keine eigenen Geschäfte eröffnen konnten, ohne zusätzliche Steuern zu bezahlen. Aber er behandelte sie gut.

«Nikomachos, mein lieber Junge», empfing er mich, als ich sein Geschäft betrat. Er war ein kleiner und dicker, aber ungemein lebhafter Mann. Obwohl er schon grau war, bewegte er sich flink wie ein Wiesel und war zudem schlau wie ein Fuchs. Er umarmte und küsste mich lachend.

«Wie geht es meinen Enkeln?», das war immer das Erste, was er fragte, obwohl er die beiden fast täglich sah. Wenn ihm sein Leben etwas vorenthalten hatte, dann einen eigenen Sohn, den er, so erzählte es meine Frau, schmerzlich vermisst hatte. Jetzt entschädigte sie ihn mit unseren Söhnen freilich doppelt, und sie liebte ihren Vater sehr. Raios strahlte mich aus seinen gescheiten Augen an. Sein Gesicht war rund und fleischig. Auf seiner Wange blühte eine Warze.

«Was kann ich für dich tun, mein Junge?» Das war die zweite Frage im Ritual unserer Begrüßung, das sich stets wiederholte. Ich antwortete normalerweise, er habe mir durch Aspasias Mitgift schon genug Gutes getan, worauf er dann laut lachte. Heute aber erklärte ich ihm, wirklich auf seine Hilfe angewiesen zu sein. Raios fasste mich am Arm und wurde sehr ernst.

«Du hast doch für Periander, den Olympiasieger, einen Ring gefertigt», begann ich. Raios nickte.

«Er ist erschlagen worden, der Ring ist verschwunden. Ich will den Schmuck durch meine Leute suchen lassen. Wo der Ring ist, da ist vielleicht auch der Mörder. Ich bräuchte eine Zeichnung oder Skizze, die ich meinen Männern zeigen kann. Das macht die Suche leichter. Hast du so etwas für mich?»

Raios blähte die Backen auf. Dann lachte er.

«Ich habe noch etwas viel Besseres», sagte er nachdrücklich. «Ich habe eine Kopie!»

Schnell lief er in den hintern Teil der Werkstatt, wo sich sein Lager befand. Es dauerte nicht lange, bis er triumphierend wiederkam. In seiner Hand hielt er einen Ring.

«Sieh her», sagte Raios, «als ich den Ring damals gemacht habe, hat er mir so gut gefallen, dass ich ihn kaum weggeben konnte. Da habe ich mir kurzerhand eine Bronzekopie gezogen. An die Stelle der Perle habe ich einen schwarzen Kiesel gesetzt. Dieser Ring hier ist dem echten Ring verblüffend ähnlich.»

Raios drückte mir das Stück in die Hand. «Für dich, mein Junge. Ich hoffe, der Ring ist dir eine Hilfe!»

Δ

es war schon dunkel, als ich mich endlich auf den Weg nach Hause machen konnte. Raios hatte mich nicht gehen lassen, bevor ich nicht mit ihm zu Abend gegessen und zumindest einen Teil meiner Begegnungen mit Alkibiades und mit Kriti-as geschildert hatte. Er war besorgt, und das nicht zu unrecht, denn zwischen diesen Mühlsteinen drohte man allzu schnell aufgerieben zu werden. Er schärfte mir ein, niemandem außer der Familie zu vertrauen und mich vor keinen fremden Karren spannen zu lassen.

Die Nacht war schwarz und nur von einer dünnen Neumondsichel beschienen. Man sah die Hand vor Augen nicht und nicht den Boden zu seinen Füßen. Wenn Periander gestern Nacht am Itonia-Tor unterwegs gewesen war - und daran hatte ich wenig Zweifel -, musste er eine Laterne oder eine Fackel bei sich getragen haben, um den Weg nicht zu verlieren. Man hatte aber weder das eine noch das andere bei ihm gefunden. Natürlich konnte ihm jemand sein Licht weggenommen haben. Vielleicht war er aber auch einfach nicht allein gewesen, sondern in Begleitung, und eben diese Begleitung trug auch das Licht. Was war dann aber aus dem Fackelträger geworden?

Das waren meine Gedanken, als ich auf Schritte aufmerksam wurde, die hinter mir zu hören waren. Begleitete mich dieses Geräusch nicht schon eine ganze Weile? Jedenfalls zu lange, als dass hier ein nächtlicher Spaziergänger zufällig hinter mir hergehen konnte? Ich trug keine Waffe bei mir. Als Lykon mich am Mittag zu Alkibiades rief, hatte ich weder mein Schwert noch meinen Bogen mitgenommen. Das bereute ich jetzt. Kamen die Schritte näher? Der Mensch hinter mir wurde schneller. Wieso beeilte er sich so? Gleich musste er mich einholen. Ich hörte schon seinen Atem. Rasch glitt ich um die nächste Ecke und verbarg mich in einem Hauseingang. Mein Verfolger ging ungerührt weiter. Nicht für einen Moment hatte er gezögert und versucht, mir zu folgen. Jetzt verhallten seine Tritte in den schmalen Gassen des Kerameikos. Ich sah wirklich schon Gespenster, wie Lykon bemerkt hatte.

Ich war froh, endlich in den von Öllampen erleuchteten Innenhof unseres Hauses zu treten, wo Aspasia und mein Vater mich erwarteten. Beide umarmten mich erleichtert - Aspasia in einer Art freilich, die mir verraten sollte, dass der Ärger über Lykons Erscheinen heute Mittag noch nicht vergessen war.