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Mit Thot an der Leine lief ich durch die Gasse und bog am Ende in die Straße ein. Gerade hatte Re den Horizont erklommen, war wiedergeboren aus dem großen Mysterium des Totenreiches der Nacht, hinein in einen neuen Tag, über dem er schlagartig seine enorme silberweiße Helligkeit verströmte. Als die ersten Strahlen mein Gesicht berührten, wurde es sofort heiß. Ich hatte versprochen, bei Sonnenaufgang wieder zu Hause bei den Kindern zu sein, und ich war schon jetzt spät dran.

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Auf den Straßen herrschte plötzlich Gedränge. Die Menschen kamen aus den unterschiedlichen Vierteln, aus den hinter hohen Mauern und Wachtoren liegenden Villen der Reichen ebenso wie aus den Hinterhöfen und von Abfall übersäten Gassen der Armen. Die Maultiere der Stadt schleppten heute ausnahmsweise mal keine Lehmziegel oder Bruchsteine, Obst oder Gemüse durch die Straßen, und die eingewanderten Hilfsarbeiter, die im Normalfall um diese Zeit zu ihrer harten Arbeit eilten, genossen einen Ruhetag. Hohe Beamte der Elite in plissierten weißen Leinengewändern klammerten sich an die Geländer ihrer kleinen Streitwagen, die ratternd und holpernd von Pferden über die Straßen gezogen wurden, einige in Begleitung mitlaufender Leibwachen. Männer aus den unteren Führungsschichten waren zu Fuß mit ihren Dienern und Sonnenschirmen unterwegs, ebenso reiche Kinder mit ihren Gouvernanten; teuer zurechtgemachte Frauen waren mit ihren aufgeregten Zofen auf dem Weg zu morgendlichen Besuchen. Sie alle liefen wie im Takt zu einem Trommelschlag, den man nicht hören konnte, auf den Südtempel am Stadtrand zu, um den Zeremonien des Festes beizuwohnen. Jeder wollte die Ankunft der heiligen Schiffe miterleben, die die Schreine der Götter trugen, und vor allem einen Blick auf den König erhaschen, der in aller Öffentlichkeit eine Audienz abhielt – bevor er die geheimste und heiligste aller Tempelstätten betrat, um sich mit den Göttern zu besprechen und für sich selbst Göttlichkeit zu empfangen.

Nur, während früher jeder bestrebt gewesen wäre, dafür zu sorgen, dass die gesamte Familie gut angezogen und adrett zurechtgemacht war und so wohlgenährt und repräsentabel aussah wie eben möglich, waren in unseren Tagen des angespannten Gehorsams aus Staunen und Ehrfurcht Unsicherheit und Angst geworden. Die Feste waren nicht mehr, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Damals schien die Welt ein einziges Märchen zu sein, in dem es keine Grenzen gab, ein Märchen mit Prozessionen und Besuchen der einzelnen Götter, die in ihren goldenen Schreinen auf goldenen Barken in die Stadt getragen wurden und dann in einem Festzug an uns vorüberschritten und sich den überhitzten Menschenmassen wie grandiose Bilder einer lebendig gewordenen Schriftrolle offenbarten.

Ich betrat den Vorhof meines Hauses und nahm Thot die Leine ab. Sofort trabte er zu seiner Schlafstatt, machte es sich darauf gemütlich und begann aus dem Augenwinkel heraus, eine der Katzen zu beobachten, die sich gerade elegant putzte, eine ihrer Vorderpfoten in die Luft hielt und sie sauber schleckte. Sie sah aus wie die kokette Geliebte eines älteren Herrn, die sich vor ihrem Publikum in Szene setzt.

Im Haus herrschte Chaos. Amenmose saß im Schneidersitz an dem niedrigen Tisch wie ein kleiner König und schlug mit geballter Faust im Takt zu irgendeiner Melodie in seinem fröhlichen Köpfchen auf die Tischplatte, sodass die Milch aus der Schüssel auf den Boden schwappte, wo eine weitere unserer Katzen sie auflecken konnte. Die Mädchen rannten hin und her und machten sich zurecht. Sie nahmen meine Anwesenheit kaum zur Kenntnis. »Guten Morgen!«, rief ich, und im Chor wurde mein Gruß irgendwie erwidert. Tanefert lief an mir vorbei und verpasste mir im Vorübergehen einen flüchtigen Kuss. Also setzte ich mich an den Tisch zu meinem Sohn, der mich für einen kurzen Moment mit einem Anflug von Neugier beäugte, als sei er mir bisher noch nie begegnet. Dann schenkte er mir plötzlich das für ihn so typische Lächeln, das besagte, dass er mich erkannte, und fuhr damit fort, auf seine Schüssel einzuschlagen, um mir zu zeigen, wie gut er das konnte. Er ist das unerwartete Wunschkind, mit dem wir nicht mehr gerechnet hatten, die Überraschung und Wonne meiner Lebensmitte. In seinem Alter glaubt er noch alles, was ich ihm erzähle, also erzähle ich ihm über alles das Beste. Natürlich versteht er kein einziges Wort. Ich versuchte, ihn zu unterhalten, indem ich ihm seine Milch einflößte, und feierlich trank er sie, als sei dies hier ein ganz besonderer Anlass.

Während ich ihm zusah, dachte ich an den toten Jungen und seinen zertrümmerten Zustand, und dieses groteske Bild wurde zu einem dunklen Schatten über dem Tisch des Lebens. Möglicherweise war es kein Zufall, dass er genau am Tag des Festes auf diese Weise ermordet worden war. Ebenso wenig zufällig war unter Umständen, dass die Gebrechen des Opfers an die unseres jungen Königs erinnerten. Obwohl in der Öffentlichkeit natürlich niemand seine Gebrechen in irgendeiner Form zu erwähnen wagt – seine angeblichen Gebrechen –, geht das Gerücht um, dass Tutanchamuns irdischer Leib alles andere als vollkommen ist. Da man ihn aber nur selten in der Öffentlichkeit sieht – und wenn, sitzt er immer in einem Streitwagen oder auf einem Thron –, kann niemand mit Sicherheit sagen, ob etwas Wahres daran ist. Allgemein bekannt ist indes, dass er niemals, obwohl er inzwischen erwachsen ist, eigenständig regiert hat.

Seinem Vater war ich vor Jahren mehrmals in der Stadt Achet-Aton begegnet. Und bei einem dieser Anlässe hatte ich auch einen Blick auf diesen Jungen erhascht, der jetzt der König geworden war, wenn vielleicht auch nur vom Titel her. Ich erinnerte mich an das schallende Klack-klack-klack seines Gehstocks auf dem Korridor dieses eitlen, tragischen und inzwischen mit Sicherheit verfallenen Palasts. Ich erinnerte mich an sein charismatisches und kantiges Gesicht mit dem kurzen, scheuen Kinn. Er hatte ausgesehen wie eine alte Seele in einem jungen Körper. Und ich erinnerte mich an das, was mir mein Freund Nacht über den Jungen gesagt hatte, den man damals Tutanchaton genannt hatte: »Wenn die Ära Atons vorbei ist, wird Amun wieder verehrt. Dann nennen sie ihn möglicherweise bei einem anderen Namen. Tutanchamun.« Und genau so war es gekommen. Denn den dem Wahnsinn verfallenen Echnaton hatte man in seinen Palast in der staubigen Totenwelt seiner zerbröselnden Traumstadt weggesperrt. Und deren gewaltige offene Tempel und die Unmengen großartiger Statuen des Königs und Nofretetes hatten sich nach seinem Tod unweigerlich alle wieder in Schutt verwandelt. Die Ziegel, aus denen die Stadt in aller Hast errichtet worden war, zerfielen jetzt, wie es hieß, wieder zu dem Staub, aus dem man sie geschaffen hatte.

Nach Echnatons Tod hatte man seinen Aton-Kult in den Beiden Ländern und den unterworfenen Gebieten wieder abgeschafft. Das Bildnis der Sonnenscheibe mit den vielen sich niederstreckenden Händen, die mit dem Anch, dem Zeichen des Lebens, die Welt segnen, war nicht mehr in die Mauern der Tempel gemeißelt, in keiner unserer Städte. Das Leben in Theben war weitergegangen, als seien alle übereingekommen, so zu tun, als sei keines dieser Dinge je geschehen. Allerdings ließ sich die Geschichte aus der persönlichen Erinnerung der Menschen natürlich nicht so leicht ausradieren. Die neue Religion hatte viele begeisterte Anhänger gehabt, und viele andere hatten auf ihren Triumph gesetzt, weil sie auf irdische Beförderung hofften, und dafür ihre finanzielle Existenz und ihre Zukunft riskiert. Viele waren jedoch insgeheim auch nach wie vor Gegner der erstaunlichen weltlichen Macht der Amun-Priester und der absoluten Macht eines Mannes im Besonderen: Eje, ein Mann, der nicht wirklich von dieser Welt war, denn sein Blut war kalt und sein Herz so voller Willkür und Gleichgültigkeit wie das Tropf-tropf-tropf einer Wasseruhr. Das heutige Ägypten ist das reichste und mächtigste Reich, das es jemals auf der Welt gegeben hat, und trotzdem fühlt sich niemand sicher. Angst, dieser unfassbare und allmächtige Feind, ist in uns alle eingefallen wie eine geheime Armee der Schatten.