Am anderen Tunnelende stellte er erleichtert fest, dass sich niemand an dem Geröllhaufen zu schaffen gemacht hatte — nur seine eigenen Fußabdrücke waren im Staub zu sehen — und dass das zerbrochene Schloss an der Verbindungstür nicht erneuert worden war.
Noch weiß niemand davon.
Er war hier noch immer sicher.
Er verließ den Tunnel und stieg zur Straße empor in einen kühlen und bewölkten Frühlingsmorgen. Die Zeit verstrich, wie er feststellte, hier genauso schnell wie zu Hause, allerdings waren die Jahreszeiten um zwei Monate gegeneinander verschoben. Er schrieb sich die Hausnummer des Gebäudes auf, in dem der Tunnel endete, und dann die Bezeichnung der Straße, als er an der Kreuzung vorbeiging. Danach ging er einfach weiter. Er war ein Tourist. Aber nur, falls jemand ihn fragen sollte. Er komme von außerhalb. Im Grunde traf das voll und ganz zu.
Natürlich verlief er sich.
Er hatte mal für Aerotech eine Geschäftsreise nach New York unternommen, aber seine Kenntnis der Stadt und ihrer Geographie war bestenfalls vage. Er ging über die Fourteenth Street zur Fifth Avenue und glaubte, dass er dort irgendwelche vertrauten Wahrzeichen antreffen würde… aber er wollte sich lieber nicht so weit vom Tunnel entfernen.
Nicht dass er Schwierigkeiten hätte, wieder dorthin zurückzufinden; die Adresse steckte in seiner Tasche. Aber er konnte kein Taxi anhalten, und er konnte noch nicht einmal einen Stadtplan in einem Souvenirladen kaufen. Sein Geld war nutzlos — zumindest ginge er das Risiko ein, dass es für Falschgeld gehalten wurde —, es sei denn, er steckte es in einen Automaten. Er sagte sich, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn er sich verliefe. Er hatte sowieso vorgehabt, den ganzen Tag umherzuwandern — ob völlig ziellos oder auf der Suche nach einem bestimmten Haus, das war im Grunde gleichgültig.
Aber es war schwierig, sich zu orientieren. Er bewegte sich wie in Trance, fühlte sich geblendet von den Wundern ringsum. Das alltäglichste Objekt — ein Damenhut im Schaufenster eines Modegeschäfts, eine Reklametafel, eine Kühlerhaubenfigur an einem Automobil — fesselte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Sie waren Symbole einer vergangenen Epoche. Es waren Tote, die aus ihren Gräbern stiegen. Er konnte nicht entscheiden, was seltsamer war, sein eigenes sprachloses Erkennen der Vergänglichkeit all dieser Dinge oder die Nonchalance der Menschen, denen er begegnete — Menschen, für die all dies lediglich die Gegenwart war, so solide und zuverlässig wie ihre Häuser.
Er musste innerlich grinsen und verspürte gleichzeitig ein unbehagliches Frösteln.
Viele der Menschen, die er sah, wären im Jahr 1989 längst gestorben. Dies sind die Leben der Toten, dachte Tom. Es sind ihre Geister-Leben, und ich bin in sie eingedrungen. Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie ihn sicherlich genauer betrachtet. Er war ein kalter Hauch aus dem Land ihrer Kinder… ein weiterer kalter Wind an einem kalten Nachmittag.
Am Nachmittag wurde es kälter, und der Regen setzte wieder ein. Ein kalter, lästiger Regen, der ihm in den Kragen sickerte und sich irgendwo, am unteren Ende seiner Wirbelsäule, zu sammeln schien. Von der Fifth Avenue aus ging er weiter über die Washington Square North und in den Park. Er erkannte den Torbogen von einer seiner Reisen in die Stadt wieder, aber jener Torbogen war mit zahllosen Graffiti besprüht gewesen. Dieser Torbogen hier zeigte seine Marmoroberfläche, wenngleich keine tadellose. Er fand eine Bank — der Regen hatte mittlerweile ein wenig nachgelassen — und ließ sich darauf nieder, um über seinen Rückweg nachzudenken. Dann blieb eine junge Frau mit buntem Brillengestell und schwarzem Pullover stehen und betrachtete ihn — sie sah ihn tatsächlich an — und fragte ihn nach seinem Namen. Sie wollte wissen, ob er eine Bleibe habe. Sie hieß Joyce Casella. Sie spendierte ihm eine Tasse Kaffee.
Sie nahm ihn mit in ihre Wohnung.
In der Nacht wachte er einmal auf. Er rekapitulierte die Erinnerung an den Tag, las sie wie einen Text und suchte nach Hinweisen. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte einen weiten Weg ohne Kompass zurückgelegt.
Eine Sirene heulte draußen in der Dunkelheit. Er stand in diesem schäbigen Zimmer mitten in New York City im Jahr des Herrn neunzehnhundertzweiundsechzig, stolperte durch einen Lichtstreifen, der von der Straßenlaterne draußen hereinfiel, zum Badezimmer und pinkelte in das rostfleckige Porzellanbecken. Er steckte mitten in einem Wunder, dachte er, nicht nur in dem Wunder 1962, sondern im Wunder seiner Alltäglichkeit, dieses mit Zahnpasta beschmierten 1962er Badezimmerschranks, dieser 1962er Flasche Aspirintabletten, dieses undichten 1962er Wasserhahns…
Er benetzte sein Gesicht und vertrieb den letzten Rest Schlaf aus seinen Knochen. Auf der Digitaluhr, die er ein Vierteljahrhundert später bei Kresge’s gekauft hatte, war es drei Uhr fünfundvierzig morgens. Er lehnte sich an die gekachelte Wand und lauschte dem Regen, der gegen das kleine Fenster trommelte. Er überließ sich Gedanken, die er schon sehr lange nicht mehr gehabt hatte.
Zum Beispiel, wie sehr er es vermisste, sein Heim mit einer Frau zu teilen.
Er konnte Joyce gut leiden, und er genoss das Gefühl, sich in ihrer Wohnung aufzuhalten und zum ersten Mal nach fast einem Jahr wieder ein Badezimmerregal zu sehen, in dem Midol und eine Schachtel mit Tampons lagen, oder ihre Haarbürste, ihre Zahnpastatube — säuberlich von unten aufgerollt — betrachten zu können. Und fast liebevoll glitt sein Blick über einen aufgeschlagenen, auf dem Wassertank der Toilette ruhenden Liebesroman von Sloan Wilson. An all diesen harmlosen, alltäglichen Intimitäten teilzuhaben, erinnerte ihn daran, wie sehr er sich nach Intimität ganz allgemein sehnte. Nach dieser winzigen Oase. In solch einer trockenen und grenzenlosen Wüste.
»Danke, Joyce«, sagte er. Er sagte es laut, aber nicht laut genug, dass sie ihn nebenan in ihrem Schlafzimmer hätte hören können. »Danke für diese Zuflucht vor dem Sturm. Es ist wirklich schön hier.«
Kalter Regen klatschte gegen das Fenster. Der Heizkörper klopfte und zischte. Draußen frischte der Wind auf.
Am Morgen fand er den Weg nach Hause.
»Vielleicht komme ich zurück«, sagte er zu Joyce. Es war kein Versprechen, aber es überraschte ihn, dass er es aussprach. Käme er zurück? Dies war ein Wunder; aber war es möglich, ganz in ein Wunder einzutauchen, darin zu leben? Wunder hatten nämlich die Angewohnheit, irgendwann zu verschwinden.
Später sollte er zu dem Schluss kommen, dass es vielleicht ein Versprechen gewesen war, wenn auch nur sich selbst gegenüber… dass er die Antwort auf all diese Fragen schon lange vorher gekannt hatte.
Sein letzter Tag in Belltower. Sein letzter Tag in den Achtzigerjahren.
Er fuhr zur Arbeit, entschlossen zu kündigen, aber Klein kam ihm zuvor, indem er ihm den blauen Brief überreichte. »Sie sind zwar insgesamt ein Versager«, informierte Klein ihn. »Aber was mich letztendlich zu diesem Schritt veranlasst hat, war das Geschäft, das Sie am Mittwoch abgeschlossen haben.«
Das Mittwochsgeschäft hatte er mit einem pensionierten Bezirksrichter gemacht. Der Kunde mochte als Richter eine strahlende Karriere hinter sich haben, jedoch litt er, wie Tom im Laufe der Zeit zu erkennen gelernt hatte, unter einer weitverbreiteten Krankheit: der Kaufpreis-Verhandlungsangst. Der Richter betrachtete den Angebotsvordruck, als sei er ein amtlich verfügtes Urteil, und war bereit, den als Verhandlungsbasis angegebenen Preis für einen Wagen zu zahlen, den er kaum in Augenschein genommen hatte. »Ich glaube, wir sollten ein niedrigeres Angebot ausrechnen«, sagte Tom, »und dann mal abwarten, was der Verkaufsleiter dazu meint.«
Er sagte zu Klein: »Wir haben bei dem Geschäft verdient.«