Clarys Hände begannen, unkontrolliert zu zittern. Als sie versuchte, ein weiteres Mal anzurufen, rutschte ihr das Telefon aus der bebenden Hand und schlug hart auf dem Gehsteig auf. Auf allen vieren suchte sie den Boden nach ihm ab, doch als sie es fand, musste sie feststellen, dass es nicht mehr funktionierte. Ein langer Riss zog sich über die Vorderseite. »Verdammt!« Den Tränen nahe, schleuderte sie das Telefon zu Boden.
»Lass das.«Jace zog sie am Handgelenk wieder hoch. »Ist was passiert?«
»Gib mir mal dein Handy«, sagte Clary und griff nach dem schwarzen metallischen Gerät, das aus seiner Hemdtasche ragte. »Ich muss …«
»Das ist kein Telefon«, erklärte Jace, machte aber keine Anstalten, es ihr wieder abzunehmen, »sondern ein Sensor. Du wirst nicht in der Lage sein, ihn zu bedienen.«
»Ich muss aber die Polizei anrufen!«
»Sag mir erst, was passiert ist.« Sie versuchte, ihm ihr Handgelenk zu entwinden, doch sein Griff war unglaublich fest. »Ich kann dir helfen.«
Brennende Wut loderte in Clary auf und rauschte durch ihre Adern wie ein Feuersturm. Ohne darüber nachzudenken, holte sie aus und fuhr Jace mit den Fingernägeln quer über die Wange. Überrascht zuckte er zurück. Clary riss sich los und rannte auf die Lichter der Seventh Avenue zu.
Als sie die Straße erreicht hatte, drehte sie sich um; fast rechnete sie damit, dass Jace ihr unmittelbar auf den Fersen sein würde. Doch die Straße war leer. Einen Moment lang starrte sie verunsichert ins Halbdunkel. Nichts bewegte sich dort. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte in Richtung ihrer Wohnung.
4
Ravener
Im Laufe des Abends war es noch schwüler geworden, und während Clary nach Hause rannte, fühlte sie sich, als müsse sie durch eine dicke, brodelnde Suppe schwimmen. An der Ecke vor ihrer Häuserzeile wurde sie von einer roten Ampel gestoppt. Ungeduldig wippte sie auf den Fußballen vor und zurück, während der Verkehr in einem Strom blendender Lichter an ihr vorbeizog. Sie versuchte erneut, zu Hause anzurufen, doch Jace hatte nicht gelogen; sein Sensor war kein Mobiltelefon. Zumindest ähnelte er nicht den Telefonen, die Clary kannte. Die Knöpfe des Geräts waren nicht mit Zahlen beschriftet, sondern trugen bizarre Symbole und ein Display gab es auch nicht.
Während sie auf ihr Haus zulief, bemerkte sie, dass alle Fenster im zweiten Stock erleuchtet waren – normalerweise ein Zeichen dafür, dass ihre Mutter zu Hause war. Okay, redete sie sich selbst gut zu, alles ist in Ordnung. Doch als sie die Haustür aufstieß, krampfte sich ihr Magen zusammen.
Die Flurlampe war durchgebrannt und die Eingangshalle lag im Dunkeln. Hinter jedem Schatten schienen Bewegungen zu lauern. Schaudernd nahm sie die ersten Treppenstufen.
»Wo willst du hin, Kleine?«, fragte unvermittelt eine Stimme.
Clary wirbelte herum. »Was …?«
Sie verstummte. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und sie konnte die Umrisse eines großen Ohrensessels erahnen, der vor Madame Dorotheas verschlossene Tür gerückt worden war. Darin eingeklemmt, wie ein zu pralles Sofakissen, saß die alte Dame. Im Zwielicht konnte Clary nur die runden Umrisse ihres gepuderten Gesichts ausmachen, den weißen Spitzenfächer in ihrer Hand, und wenn sie redete, die dunkel klaffende Öffnung ihres Mundes. »Deine Mutter hat einen Mordslärm da oben veranstaltet«, setzte Dorothea an. »Was treibt sie denn? Möbelrücken?«
»Hören Sie, ich glaube nicht …«
»Und die Treppenhausbeleuchtung ist durchgebrannt.« Dorothea klopfte mit dem Fächer auf die Sessellehne. »Kann deine Mutter nicht mal ihren Freund bitten, die Birne zu wechseln?«
»Luke ist nicht …«
»Und das Oberlicht müsste mal geputzt werden. Kein Wunder, dass es hier so finster ist.«
Luke ist nicht der Vermieter, hätte Clary am liebsten erwidert, doch sie schwieg. Das war wieder typisch für die Alte. Sobald sie Luke so weit hatte, die Birne zu wechseln, würde sie ihm noch Hunderte anderer Jobs auftragen – ihre Einkäufe abholen, den Abfluss in ihrer Dusche reinigen und so weiter. Einmal hatte sie ihn ein altes Sofa mit der Axt zerkleinern lassen, damit sie es aus der Wohnung bekam, ohne die Türen auszuhängen.
Clary seufzte. »Ich werd ihn fragen.«
»Tu das.« Dorothea ließ den Fächer zuschnappen.
Clarys mulmiges Gefühl verstärkte sich, als sie die Wohnungstür erreichte. Sie stand einen Spaltbreit offen und ein keilförmiger Lichtkegel fiel auf den Treppenabsatz. Mit einem wachsenden Gefühl der Panik stieß Clary die Tür auf.
In der Wohnung brannten alle Lampen; alles strahlte so hell wie irgend möglich. Das grelle Licht schmerzte in den Augen.
Die Schlüssel und die rosafarbene Handtasche ihrer Mutter lagen wie immer auf dem schmiedeeisernen Regal neben der Tür. »Mom?«, rief Clary. »Mom, ich bin’s!«
Es kam keine Antwort. Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Beide Fenster standen offen und die langen weißen Vorhänge bauschten sich wie rastlose Geister in der schwülen Brise. Erst als der Wind sich legte und die Vorhänge sich senkten, bemerkte Clary, dass die Sofakissen quer durchs Zimmer geschleudert worden waren. Einige hatte man der Länge nach aufgeschlitzt und ihr Inneres quoll auf den Boden. Die Bücherregale waren umgekippt und ihr Inhalt verstreut. Auch der Klavierhocker lag umgestürzt da. Jocelyns geliebte Notenhefte schienen über den gesamten Boden verteilt zu sein.
Am schlimmsten traf Clary der Anblick der Bilder. Jedes einzelne war aus dem Rahmen getrennt und in Streifen zerfetzt worden, die verstreut auf dem Teppich lagen. Das musste jemand mit einem Messer bewerkstelligt haben, denn mit bloßen Händen ließ sich Leinwand kaum zerreißen. Die leeren Rahmen wirkten wie abgenagte Knochen. Ein Schrei stieg in Clary auf. »Mom!«, schrie sie. »Wo bist du? Mommy!«
Sie hatte Jocelyn seit ihrem achten Lebensjahr nicht mehr »Mommy« genannt.
Mit pochendem Herzen rannte sie in die Küche. Sie war leer und alle Schränke standen offen; aus einer Tabasco-Flasche hatte sich scharfe rote Flüssigkeit quer über das Linoleum ergossen. Clarys Knie wurden butterweich. Sie wusste genau, dass sie eigentlich aus der Wohnung rennen, ein Telefon suchen und die Polizei verständigen sollte. Aber all das schien so fern – zuerst musste sie ihre Mutter finden und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Was, wenn Einbrecher da gewesen waren und ihre Mutter sich mit ihnen angelegt hatte …?
Aber welche Sorte Einbrecher ließ eine Brieflasche liegen – ganz abgesehen vom Fernseher, dem DVD-Player und dem teuren Notebook?
Inzwischen hatte sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter erreicht. Einen Moment lang sah es so aus, als sei wenigstens dieser Raum verschont geblieben: Jocelyns handgenähte Tagesdecke lag ordentlich über dem Bett. Clarys eigenes Gesicht lächelte ihr vom Nachttischchen entgegen – das zaghafte Lächeln einer Fünfjährigen mit Zahnlücke, das Gesicht umrahmt von rotblonden Locken. Ein Schluchzen stieg in ihr auf. Mom, weinte sie stumm in sich hinein, wo bist du?
Doch alles blieb still… nein, nicht ganz, denn plötzlich hörte sie ein Geräusch in der Wohnung, das ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Es klang, als würde etwas umgeworfen – ein dumpfer, schwerer Aufprall auf den Boden, gefolgt von einem Schleifen. Das Geräusch näherte sich dem Schlafzimmer. Clary spürte, wie die Panik ihren Magen in einen Eisklumpen verwandelte. Zitternd stand sie auf und drehte sich langsam um.
Einen Moment lang sah sie nichts in der Tür und ihr Körper entspannte sich etwas. Doch dann schaute sie nach unten.
Eng an den Boden geschmiegt lauerte dort eine lange, schuppige Gestalt mit einer Reihe flacher schwarzer Augen, die weit vorn in der Mitte des gewölbten Schädels saßen. Mit der dicken, abgeflachten Schnauze und dem drohend hin und her peitschenden, stachligen Schwanz wirkte sie wie eine Kreuzung aus Alligator und Tausendfüßler. Ihre zahlreichen Beine waren zum Sprung leicht angezogen.