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Alyss wollte schnell weitergehen, doch die Zigeunerin hatte bereits nach ihrer Hand gegriffen. Es kitzelte leicht, als sie mit ihrem Zeigefinger die Linien entlangzog. Die Frau betrachtete die Handfläche zuerst lächelnd, dann plötzlich wurde sie ernst. Zwischen ihren schwarzen Augen war eine tiefe Sorgenfalte aufgetaucht. Sie blickte Alyss kurz an, dann ließ sie ihre Hand jäh fallen.

»Nimm dich in Acht«, murmelte sie. »Du schwebst in großer Gefahr.« Dann eilte sie weiter.

»Halt, wartet!«, rief Alyss. Doch die Frau war in der Menge verschwunden. Verwirrt starrte Alyss auf ihre Hand. Was konnte dort so Schlimmes stehen, dass es die Wahrsagerin nicht verraten wollte? So schlimm, dass sie sogar ohne Bezahlung weiterzog. Unweigerlich blickte Alyss sich nach Onkel Humphrey und seinem Häscher um, doch überall konnte man nur fröhliche Menschen sehen. Natürlich war das lächerlich. Woher sollte der Onkel wissen, dass sie nach London gegangen war? Sicher hockte er zu Hause in Hatton Hall und trank Vaters Portwein. Alyss schob sich weiter durch das Gewimmel, immer ihrer Nase nach, bis sie schließlich neben einem Zeltdach landete, unter dem ein Spanferkel am Spieß über einem Feuer brutzelte. Der Bratensaft tropfte in die Flammen und ließ sie auflodern. Sie kramte im Beutel, der am Gürtel hing, um ein paar Münzen hervorzuholen. Bevor sie den Verschluss wieder zuzog, berührte sie kurz den Salamander. Vater hatte gesagt, dass es sich bei dem kleinen Tier um ein Amulett handelte. Sicher würde es auch ihr Glück bringen.

Wenig später hielt Alyss ein riesiges Stück Brot in der Hand, in dem eine große Portion saftiges und leckeres Fleisch steckte. Inzwischen waren die vielen Stände und Buden hell erleuchtet und sie stellte sich genussvoll kauend vor die Schaubude gegenüber. Im Licht mehrerer Fackeln kündigte dort ein dicker Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, die nächste Vorstellung an. Stiefel, Handschuhe, Weste, Umhang waren schwarz, sogar die Kappe.

»Hereinspaziert, meine Damen und Herren!«, warb er wie die anderen Schausteller ums Publikum. »Die letzte Vorführung wird jeden Augenblick beginnen. Treten Sie ein und bestaunen Sie Tubneys weltberühmte Raritätenschau.« Er ging auf der Plattform auf und ab, während er seine Arme theatralisch ausbreitete. »Sie dürfen Prinzessin Aurelia, die kleinste Frau der Welt, auf keinen Fall versäumen! Sehen Sie, wie der bärenstarke Hector aus dem Land der Riesen Feuer schluckt! Für drei, nein für zwei, nein für nur einen Penny Einlass sind Sie dabei! Ein unvergessliches Erlebnis, das gekrönt wird von Sassacomuwah, einem wilden Eingeborenen aus Virginia in der Neuen Welt. Allerdings ist höchste Vorsicht geboten. Das Lieblingsgericht des Wilden ist zartes Menschenfleisch.«

Zahlreiche Umstehende drängten auf die Kasse zu, wo eine Frau das Eintrittsgeld kassierte.

Alyss schluckte den letzten Bissen hinunter und wischte sich mit der Hand über den Mund. Sie war satt, und plötzlich fühlte sie wieder, wie müde sie war. Die laute Musik tat ihr im Kopf weh. Sie hatte genug von den vielen Menschen und wollte nur noch schlafen. Doch zuvor musste sie über die Brücke zu Sir Christopher.

»Hast du keine Augen im Kopf!« Ein Junge hatte sie ungestüm angerempelt. Kurz sah sie sein sommersprossiges Gesicht mit den feuerroten Haaren dicht vor dem ihren. Doch schon einen Augenblick später war er wieder im Gedränge verschwunden. Auch Alyss zwängte sich weiter durch die Menschenmassen. Dann endlich konnte sie über den Dächern der Schaubuden den Torbau erkennen, durch den man auf die London Bridge gelangte. Und dann stand sie davor.

Alyss blickte zu den Zinnen des Tores hoch. Der mächtige Bau wurde Verrätertor genannt, denn hoch oben, auf Spießen, steckten die Köpfe von Verbrechern, die kürzlich hingerichtet worden waren. Jetzt starrten sie mit leeren Augen auf das Mädchen hinab. Obwohl es eine laue Nacht war, begann sie zu frösteln. Sie wollte so schnell wie möglich weg von hier und schritt auf den Durchgang zu. Doch das schwere Holztor war verschlossen.

Die Londoner Brücke war keine alltägliche Brücke. Als Alyss damals mit ihrem Vater in die Stadt gekommen war, hatte sie nicht einmal gemerkt, dass es sich um eine Brücke handelte. Auf beiden Seiten standen Häuser mit Läden. Es gab sogar eine Kirche. Da die Straße nur schmal war, hatte es ewig gedauert, bis sie mit der Kutsche auf die andere Seite gelangt waren. Doch heute war sie zu Fuß unterwegs und es würde sicher schneller gehen. Alyss blickte nochmals zu den Köpfen hoch, dann hämmerte sie mit der Faust gegen das Tor. Doch dahinter regte sich nichts. Der Torwächter schien sie nicht zu hören. Stattdessen blieb ein Passant stehen.

»Da kommst du heute nicht mehr durch, Junge«, erklärte er freundlich. »Die machen um neun dicht und lassen erst wieder morgen früh Leute über die Brücke.«

»Aber ich muss noch heute in die Stadt.«

»Gleich um die Ecke ist eine Fährstelle.« Er deutete mit dem Finger die Straße entlang, wo man ein hell erleuchtetes Wirtshaus sehen konnte. »Bieg nach dem Bären rechts in die Gasse Richtung Fluss ein. Dort legen den ganzen Abend lang Boote an. Für ’nen Penny bringen die dich auf die andere Seite.«

Die Fährstelle lag tatsächlich nur eine kurze Strecke entfernt, und bald stand Alyss am Flussufer, wo Steinstufen zum tintenschwarzen Wasser hinabführten. Unten warteten bereits mehrere Fährmänner auf Kundschaft. Sie griff nach ihrem Beutel, um eine Münze herauszuholen, doch der Beutel war weg. Erschrocken tastete sie ihren Gürtel, das Wams und die Hosenbeine ab. Nichts! Da fiel ihr der rothaarige Junge ein. Hatte er sie absichtlich angerempelt, um ihren Beutel zu klauen? Jemand musste die Lederschnüre durchtrennt haben, sonst wäre es unmöglich gewesen, ihn zu verlieren.

»Der Salamander!« Wie konnte sie nur so dumm sein, den Beutel mit seinem kostbaren Inhalt deutlich sichtbar am Gürtel zu tragen. Alyss war den Tränen nahe. Was für ein Schlamassel! Ohne das Kennzeichen würde Sir Christopher vermutlich nichts unternehmen, um sie vor Onkel Humphrey und seinem Häscher zu beschützen. Trotzdem würde sie es versuchen, allerdings gab es ohne Geld heute keinen anderen Weg mehr, um ans gegenüberliegende Ufer zu gelangen. Sie blickte zur Brücke, die sich in der Ferne im Fluss spiegelte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als bis zum nächsten Morgen zu warten. Aber wo sollte sie schlafen? Erst jetzt bemerkte sie, dass vom Wasser ein unerträglich fauliger Gestank hochstieg. Hier auf den feuchten Stufen der Fährstelle konnte sie unmöglich die Nacht verbringen. Vermutlich war es am besten, zurück zum Jahrmarkt zu gehen. Hinter den Buden fand sich bestimmt ein sicheres Plätzchen zum Schlafen. Alyss gähnte. Sie hatte die vergangene Nacht nicht geschlafen und war den ganzen Tag gelaufen. Ihre Füße schmerzten.

Zurück am Jahrmarkt waren immer noch Menschen unterwegs, obwohl die meisten Stände bereits geschlossen hatten. Die letzten Vorstellungen waren zu Ende und die Zuschauer machten sich auf den Heimweg. Hinter den Buden war es stockfinster und menschenleer.

»Gib mir dein Geld!«

Alyss bemerkte die dunkle Gestalt, die hinter einer Hausecke hervorgetreten war, erst im letzten Augenblick. Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, doch das Messer in seiner Hand blinkte kurz auf. Sie raste los. Trotz aller Erschöpfung hetzte sie hinter den Buden entlang. Dann plötzlich flog sie durch die Luft und landete in hohem Bogen auf dem Erdboden.

»Autsch!«

Als Alyss sich aufrappeln wollte, schoss ein heftiger Schmerz durch ihren Knöchel. Sie war über eine Zeltleine gestolpert und hatte sich dabei den Fuß verstaucht. Wenigstens hatte sie den Mann mit dem Messer abgehängt, denn er war nirgendwo zu sehen. Gleich neben ihr stand ein Zelt, das an die Rückseite einer Schaubude angebaut war. Ob sie dort unterschlüpfen konnte? Vorsichtig hob sie die Plane, die vor dem Eingang hing. Alles, was sie in der Dunkelheit ausmachen konnte, waren Stroh und mehrere Decken. Das war genau das, was sie heue Nacht brauchte. Wenn sie morgen zeitig aufbrach, würde sie hier sicher niemand entdecken. Sie kroch ins Zelt, rollte sich aufs Stroh und zog sich gähnend eine Decke bis zum Kinn hoch. Durch die Zeltleinwand drangen nur noch gedämpfte Geräusche. Einen Augenblick später war Alyss eingeschlafen, ahnungslos, was auf dem Schild über dem Eingang an der Vorderseite der Schaubude zu lesen war. In großen grünen Buchstaben auf gelbem Grund stand dort: Tubneys Raritätenschau. Monster, Zwerge, Menschenfresser. Besichtigung auf eigene Gefahr!