Выбрать главу

London, Freitag, 6. September 1619

Jack hockte mit den anderen Kindern der Bande auf Molls Dachboden. Wie jeden Abend wurden sie dort in der Kunst des Diebstahls unterwiesen. Doch Jack konnte sich nicht konzentrieren. Er musste heute besonders oft an seinen Bruder denken. Ned war seit genau fünf Wochen spurlos verschwunden.

»Ihm ist sicher nichts passiert«, hatten ihn die anderen Bandenmitglieder immer wieder aufgemuntert. »Die haben ihn nur beim Klauen erwischt und ins Heim gesteckt. Die Kinder werden schon nach ’n paar Wochen entlassen. Er taucht sicher bald hier auf. Und vergiss nicht, sie waren zu zweit. Guy ist schon fast vierzehn und gibt sicher auf den Kleinen acht.«

Doch Jack ließ sich nicht trösten. Trotz aller Ermutigungen befürchtete er das Schlimmste. Natürlich hatten seine Freunde recht. Wenn ein Taschendieb Pech hatte und von einem Wachmann auf frischer Tat ertappt wurde, steckte man ihn oft für einige Wochen nach Bridewell. Das ehemalige Schloss, zwischen Themse und Fleet Street gelegen, war kein Gefängnis, sondern nannte sich Besserungsanstalt. Dort sollten Bettler, Landstreicher, Taschendiebe und Verbrecher zu ordentlichen Bürgern umerzogen werden. Doch die Anstalt unterschied sich kaum von den Gefängnissen der Stadt. Jack hatte von einem ehemaligen Insassen erfahren, dass es in Bridewell hart zuging. Man musste von früh bis spät arbeiten und bekam nur Haferschleim zu essen. Wie sollte der achtjährige Ned, der ohnehin schon schwächlich war, das überstehen? Zudem hatte Jack heute herausgefunden, dass die meisten Kinder tatsächlich nach vier Wochen entlassen wurden. Er konnte nicht mehr nur auf den Bruder warten, sondern musste handeln.

Plötzlich sah Jack die Kammer vor sich, in der er mit Ned und seiner Mutter nach dem Tod des Vaters gehaust hatte. Damals hatten sie ständig gefroren. Es war kaum Geld für ausreichend Essen, geschweige denn für Holz zum Heizen vorhanden gewesen. Dann eines Tages konnte die Mutter nicht mehr aufstehen. Sie lag auf der Strohmatratze, ihr Gesicht glühend vor Fieber. Mit schwacher Stimme hatte sie Jack, der damals selbst erst acht Jahre alt gewesen war, gebeten, immer auf seinen vierjährigen Bruder aufzupassen. Erst als ihr Jack sein Wort gegeben hatte, schloss die Mutter beruhigt die Augen. In der folgenden Nacht starb sie.

»Jack!« Molls tiefe Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Die große, kräftige Frau, die nie einen Rock, sondern immer nur Männerhosen, Hemd und Wams trug, blickte ihn erwartungsvoll an. »Na los! Erklär dem Neuen den Scherengriff.«

Doch Jack starrte immer noch mit leerem Blick vor sich hin.

»Verdammt noch mal, Jack! Ich dachte, du bist ’n Meistertaschendieb, mein bester Schüler. Aber statt aufzupassen, bist du heute so ’n richtiger Dussel.« Während sie ihn tadelte, turnte Orlando, ihr kleiner Affe, auf ihren Schultern laut schnatternd hin und her.

»Der Scherengriff, na los!«

Jacks helle, sommersprossige Haut färbte sich tiefrot, fast so rot wie seine leuchtenden Haare. Er schluckte. Sein Hals schien wie ausgetrocknet.

Tommy, der Neue, ein magerer, blasser Junge, blickte ihn mit großen Augen an. Als Maggie, die älteste der Bande, ihn vor ein paar Tagen bei der London Bridge aufgelesen hatte, war er gerade dabei gewesen, die Gosse nach Essbarem zu durchsuchen. Irgendwie erinnerte der Neue ihn an seinen Bruder. Er war genauso dünn, gleichaltrig, und selbst seine Haare hatten einen leichten Stich ins Rote, obwohl sie mehr ins Braune gingen, während Neds Haare so flammend rot leuchteten wie die seines Bruders. Wie Tommy hatten Jack und Ned nach dem Tod der Mutter ebenfalls versucht, sich allein in den Straßen Londons durchzuschlagen. Bis Guy sie auflas und zu der seltsamen Frau in Männerkleidern brachte. Moll bot ihnen ein Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen, auch wenn sie als Gegenleistung von ihren Zöglingen erwartete, dass sie hart arbeiteten und täglich die gestohlene Ware ablieferten.

»Man muss seine Finger wie ’ne Schere bewegen«, erklärte Jack schließlich, während er gleichzeitig seine rechte Faust hochhob. Langsam streckte er den Zeige- und den Mittelfinger und führte sie, wie die Schneiden einer Schere, seitlich auseinander und wieder zusammen. »Damit kann man Sachen aus Taschen ziehen, ohne dass es die Leute spüren.«

Moll nickte, während sie ihre Pfeife paffte und mit dem Rauch Ringe in die Luft blies. Ihr Äffchen versuchte unermüdlich, die Kringel einzufangen.

»Hände«, meinte sie, »sind für euch so was wie ’n Hammer und Eisen für ’nen Schmied. Ihr müsst sie geschmeidig halten, nur so werdet ihr zu echten Meisterdieben.« Sie stellte sich breitbeinig vor die Jungen und Mädchen, hob ihre Arme, während sie ihre Finger mehrmals streckte und beugte. »Fingerfertigkeit, Geschicklichkeit und Menschenkenntnis, das sind unsere besten Waffen. Viel besser als ’ne Muskete oder ’n Dolch von ’nem Straßenräuber. Obwohl so was auch überaus nützlich sein kann.« Sie klopfte mit der Linken auf den Griff ihres Messers, das an ihrem Gürtel baumelte, und zwinkerte den Kindern zu. Danach wandte sie sich wieder an Jack. »Zeig dem Neuen, wie ’n geschickter Dieb sein Opfer beklaut, ohne dass es was merkt.« Mit einer kurzen Kinnbewegung deutete sie in die Mitte des Raums.

Dort baumelte ein lebensgroßer Strohmann an einem Seil, das am Dachbalken befestigt war. Sie nannten ihn James. Er trug Kniehosen, Stiefel, ein Wams und eine Jacke. Auf seinen Strohkopf hatten die Kinder ihm einen breitrandigen Hut gesetzt. Bis auf sein Gesicht sah er so echt aus, dass Jack und Ned, als sie vor vier Jahren zum ersten Mal Molls Dachboden betreten hatten, mächtig erschrocken waren. Sie waren überzeugt gewesen, dort hinge ein Mann. Doch Jack hatte James inzwischen gut kennengelernt. Der Strohmann war eine Übungspuppe für die jungen Taschendiebe. Er half dabei, Tricks zu erlernen und ihre Fingerfertigkeit zu testen.

Taschendiebstahl war keine Kunst, die man von einem Tag auf den anderen lernte. Man musste viel üben und James war geduldig. Doch wer glaubte, dass es ein Kinderspiel war, eine Strohpuppe zu bestehlen, hatte sich getäuscht. Nur weil James keine Augen im Kopf hatte und nichts spüren konnte, bedeutete das nicht, dass er nicht wachsam war.

Zögerlich erhob sich Jack von der Matratze, auf der er mit den anderen Kindern – Tommy, Hal, Walter, Tim, Maggie und Eliza – hockte, alle Augen auf ihn gerichtet. Nur Orlando, immer noch auf Molls Schulter, interessierte sich nicht für das Schauspiel. Zwar hatte er es inzwischen aufgegeben, die Rauchringe zu fangen, doch nun knabberte er stattdessen liebevoll an Molls Ohrläppchen.

»Na los, mach schon!«, forderte Moll Jack auf. »Wir haben nicht ewig Zeit.«

Eine Bodendiele knarrte, doch ansonsten war es mucksmäuschenstill. Jack stand inzwischen vor dem Strohmann. Er hatte oft genug an James geübt, um es zur reinen Routine zu machen. Doch heute tauchte immer wieder Ned vor seinen Augen auf und er hörte deutlich die Stimme seiner Mutter.

»Pass gut auf den Kleinen auf«, war das Letzte, was sie zu ihm gesagt hatte. Doch wenn Jack nicht wollte, dass Moll sich über ihn lustig machte oder ihn gar bestrafte, musste er sich jetzt unbedingt konzentrieren. Automatisch schob er seine Hand zwischen Mantel und Wams des Strohmanns, um nach dessen Gürtel zu tasten. Er wusste, dass dort ein Beutel hing, der mit Münzen gefüllt war. Jacks Aufgabe war es, die Geldstücke zu stehlen, ohne dass James ein Geräusch von sich gab. Doch seine Hand, gewöhnlich geschickt wie keine andere, begann zu zittern. Unzählige Glöckchen, die an der Kleidung der Puppe festgenäht waren, begannen Alarm zu läuten. Nur Diebe mit Fingerspitzengefühl konnten unbemerkt entkommen. Jack war es heute zum ersten Mal seit langer Zeit nicht gelungen, den Strohmann auszutricksen.

Moll schüttelte ungläubig den Kopf. Orlando sprang mit einem riesigen Satz auf den Kopf des Strohmanns, wo er laut kreischend hin und her schaukelte, während die Glöckchen ein wildes Konzert veranstalteten.

»Was ist nur los mit dir?«, versuchte Moll den Lärm zu übertönen.