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Um Mitternacht stand Alyss vor dem fleckigen alten Spiegel in ihrer Kammer. Die anderen Hausbewohner waren längst zu Bett gegangen. Nur Alyss war noch auf, um ihre heimliche Reise nach London vorzubereiten.

»Los!«, befahl sie dem Mädchen mit den langen dunklen Locken, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. »Mach schon.« Sie griff nach der Schere und begann zaghaft, die erste Strähne abzuschneiden. Während draußen ein Unwetter tobte, Blitze über den Himmel zuckten und es laut donnerte, fielen ihre Locken, eine nach der anderen, lautlos zu Boden. Erst als Alyss fertig war, blickte sie wieder in den Spiegel. Dort stand ein Junge im Unterkleid. Auf dem Bett lagen Hose und Wams bereit, die sie aus der Kleidertruhe der Ratcliff-Brüder gestohlen hatte. Zwar war Henrys Hose viel zu groß, doch mit dem Gürtel im letzten Loch würde sie ihr immerhin nicht von der Hüfte rutschen. Die Hemdsärmel waren zu lang und sie schlitterte in Georges alten Stiefeln herum wie auf Eis. Das Wams dagegen passte wie angegossen. Zufrieden musterte sie den Jungen im Spiegel.

»Perfekt!« Sie fuhr mit ihrer Hand durch die strubbeligen Haare, die sich ungewohnt anfühlten. Mit einer tief in die Stirn gezogenen Kappe würde selbst Onkel Humphrey sie nicht erkennen. Dann band sie den Beutel mit dem Salamander am Gürtel fest. Nur schade, dass sie nicht reiten konnte. Auf Arrow, Vaters Braunem, den der Onkel seit Neuestem benutzte, wäre sie sicher schnell wie ein Pfeil in der Stadt. Doch selbst zu Fuß war London nur eine Tagesreise entfernt. Das konnte sie leicht schaffen, auch wenn die Landstraße gefährlich war und überall Räuber auf Reisende lauerten. Sie hoffte, dass diese an einem Jungen ohne Gepäck und in zu großen Hosen nicht interessiert waren.

Als Alyss wenig später lautlos aus dem Haus schlich, hatte der Regen aufgehört. Zwischen Wolkenfetzen konnte man eine helle Mondsichel erkennen.

Rotschopf

London, Samstag, 7. September 1619

Das Erste, was Jack erblickte, als er seine Augen am nächsten Morgen aufschlug, war ein wolkenloses, tiefblaues Rechteck. Jemand hatte die Dachluke, die sie wegen des Regens geschlossen hatten, wieder geöffnet, und man konnte sehen, dass es draußen bereits hell war. Das Unwetter der vergangenen Nacht hatte sich verzogen.

»Kauft Pasteten, knusprig und heiß! Reife Pflaumen, süß wie Zucker! Frische Milch von glücklichen Kühen!«, drangen die Rufe der Straßenverkäufer, die jeden Morgen in der Gasse ihre Waren anboten, nach oben. Irgendwo wurde der Fensterladen einer Werkstatt laut klappernd geöffnet.

Jack rieb sich schläfrig die Augen, als ihm plötzlich die ereignisreiche Nacht wieder einfiel. Hatte er das geträumt oder war Guy tatsächlich ohne seinen Bruder aus Bridewell zurückgekehrt? Aber wenn Ned nicht mit Guy im Heim gewesen war, wo war er dann?

»Hallo Schlafmützen!« Im nächsten Augenblick tauchte Maggies Kopf in der Bodenklappe auf. Zur Abwechslung trug sie ihre langen blonden Haare nicht offen, sondern hatte sie mit einem blauen Seidenband am Hinterkopf zusammengebunden. »Frühstück!«

Wie jeden Tag war sie zeitig aufgestanden, um für die Bandenkinder Essen zu besorgen. Jetzt schob sie einen Korb durch die Öffnung und kletterte hinterher. Eliza tauchte gleich hinter ihr auf, ihre Wangen vor Aufregung gerötet. In der Hand hielt sie glückstrahlend eine Orange.

»Wenn’s nur kein Haferschleim ist«, kam Guys Stimme aus der Ecke. »Davon hab ich die Schnauze voll.« Er erhob sich von seiner Matratze und streckte gähnend seine Arme. Dann ging er auf den Strohmann zu, der wie immer in der Mitte des Dachbodens am Balken baumelte, und boxte ihn gegen die Brust. Die vielen Glöckchen, die an James’ Jacke befestigt waren, klingelten laut, während er selbst heftig hin und her schaukelte.

»Master James.« Guy verbeugte sich grinsend, während er gleichzeitig einen imaginären Hut lüftete. »Welch Ehre, Euch wiederzusehen.« Dann sprang er wie ein hungriges Tier auf den Korb zu und riss das Tuch, mit dem Maggie den Inhalt abgedeckt hatte, achtlos zur Seite.

Das Klingeln der Glöckchen und der Geruch nach frischem Brot hatten auch die anderen Jungen geweckt, die sich nacheinander gähnend von ihren Lagern erhoben.

»Finger weg«, tadelte Maggie Guy und schob seine Hand weg, die bereits auf dem Laib im Korb lag. »Du musst genauso warten wie alle anderen.«

Sie holte ein Messer vom Regalbrett an der schrägen Wand und fing an, das frische Brot und danach den Käse in acht gleich große Stücke zu schneiden. Eliza trippelte neben ihr ungeduldig von einem Bein aufs andere. Sie hielt die Orange immer noch fest in der Hand, als handelte es sich um einen Schatz.

»Kannst du sie bitte wie ’ne Blume schälen«, bat sie Maggie, als diese endlich fertig war.

»Klar.« Das ältere Mädchen lächelte, und während die Jungen sich auf das Essen stürzten, ritzte sie die Orangenschale mit dem Messer ein. Danach löste sie die Schale geschickt von der Frucht, ohne sie ganz zu entfernen, und ordnete sie mit den Spalten wie Blütenblätter an. Als sie die Orange der Kleinen zurückgab, glich sie tatsächlich einer Dahlie. Eliza bewunderte das Kunstwerk jedoch nur einen Augenblick, bevor sie die Orangenspalten großzügig an die Bandenmitglieder verteilte.

»Wo kommt die denn her?«, fragte Guy, während er gierig nach seinem Stück griff und es sich in den Mund steckte. »Seid ihr etwa unter die feinen Leute gegangen?« Er wischte sich den Saft mit dem Hemdärmel vom Kinn und hockte sich auf einen Strohsack.

»Die nette Orangenfrau vom Theater hat sie mir geschenkt«, erklärte die kleine Eliza. Sie leckte an ihrem Stück und fing an, es genießerisch auszusaugen.

Auch Jack hatte sich inzwischen zu den anderen gesellt. Er nahm sich wortlos seinen Anteil Brot, Käse und Orange und setzte sich neben Guy.

»War Ned wirklich nicht mit dir in Bridewell?«, fragte er den Jungen, ohne das Essen anzurühren.

»Menschenskinder!«, stöhnte Guy mit vollem Mund. »Geht denn gar nichts in deinen Schädel rein? Dein oller Bruder war nicht im Heim. Hab ich dir doch schon hundert Mal gesagt.« Inzwischen hatte er sein Orangenstück verschlungen und stopfte sich abwechselnd Käse und Brot in den Mund.

»Kannst du mir dann bitte wenigstens ganz genau berichten, wohin ihr damals gegangen seid und wo du Ned zuletzt gesehen hast.«

»Wenn du denkst, du könntest deinen Bruder nach all dieser Zeit wiederfinden, irrst du dich gewaltig.« Guy tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Inzwischen sind alle Spuren eiskalt. Du bist zu spät.«

»Aber ich dachte, er sei bei dir«, rechtfertigte sich Jack wütend. »Ihr seid zusammen los. Und ich dachte, ihr wärt auch zusammen in Bridewell gewesen. Konnte ja nicht wissen, dass du ihn einfach so im Stich gelassen hast.« Er atmete tief ein. »Bitte«, bat er schließlich, obwohl er sich am liebsten auf Guy gestürzt hätte.

»Na los«, forderte jetzt auch Maggie den Jungen auf. »Sei doch nicht so stur. Es kann doch nicht so schwer sein, alles der Reihe nach zu berichten.«

»Na gut«, gab Guy schließlich nach und grinste mit vollem Mund. »Sagen wir mal, Molls Spiegel sind an allem schuld.«

Wenigstens darin stimmte Jack ihm zu. Wegen der doofen Spiegel hatte er Ned nicht begleiten können. Obwohl Moll bereits unzählige Spiegel besaß und fast jede freie Wand im Haus damit bedeckt war, hatte die Frau am Tag, bevor Ned verschwand, schon wieder Spiegel erworben. Jack sollte ihr helfen, die neuesten Sammlerstücke im Gang aufzuhängen. Wegen der Spiegel musste sein Bruder mit Guy losziehen, und wegen der Spiegel war Jack nicht da gewesen, um ihn zu beschützen.

»Ich hatte von Anfang an so ’n Riecher, das was in die Hose gehen würde«, fuhr Guy fort, während er sich mit der Hand über die Haarstoppeln fuhr. »Kein Wunder, denn dein Bruder ist noch grün hinter den Ohren und hat wirklich null Ahnung, wenn’s ums Klauen geht.«