Er machte eine Ruhepause. Der Vorstand bemerkte:
»Ihr setzet mich immer mehr in Erstaunen, Magister. Da sprechet Ihr von Eurem Leben, und es ist kaum von etwas andrem die Rede als von privaten, subjektiven Erlebnissen, persönlichen Wünschen, persönlichen Entwicklungen und Entschlüssen! Ich wußte wirklich nicht, daß ein Kastalier Euren Ranges sich und sein Leben so sehen könne.«
Seine Stimme hatte einen Klang zwischen Vorwurf und Trauer, der Knecht weh tat; doch faßte er sich und rief munter: »Aber Hochverehrter, wir sprechen zur Stunde ja nicht von Kastalien, von der Behörde und der Hierarchie, sondern einzig von mir, von der Psychologie eines Mannes, der Euch leider große Ungelegenheiten hat bereiten müssen. Von meiner Amtsführung, meiner Pflichterfüllung, meinem Wert oder Unwert als Kastalier und als Magister zu sprechen, steht mir nicht zu. Meine Amtsführung liegt, wie die ganze Außenseite meines Lebens, offen und nachprüfbar vor Euch, viel werdet Ihr nicht zu strafen finden. Worum es hier geht, ist ja etwas ganz anderes, nämlich Euch den Weg sichtbar zu machen, den ich als Einzelner gegangen bin und der mich jetzt aus Waldzell hinausgeführt hat und morgen zu Kastalien hinausführen wird. Höret mir noch eine kleine Weile zu, seid so gütig!
Daß ich vom Vorhandensein einer Welt außerhalb unsrer kleinen Provinz wußte, verdanke ich nicht meinen Studien, in welchen diese Welt nur als ferne Vergangenheit vorkam, sondern zuerst meinem Mitschüler Designori, der ein Gast von draußen war, und später meinem Aufenthalt bei den Benediktinervätern und dem Pater Jakobus.
Es war sehr wenig, was ich mit eigenen Augen von der Welt gesehen habe, aber durch jenen Mann bekam ich eine Ahnung von dem, was man Geschichte nennt, und es mag sein, daß ich schon damit den Grund zu der Isolierung legte, in die ich nach meiner Rückkehr geriet. Meine Rückkehr aus dem Kloster geschah in ein nahezu geschichtsloses Land, in eine Provinz von Gelehrten und Glasperlenspielern, eine höchst vornehme und auch höchst angenehme Gesellschaft, in welcher ich aber mit meiner Ahnung von der Welt, meiner Neugierde auf sie, meiner Teilnahme für sie ganz allein zu stehen schien. Es war genug da, um mich dafür zu entschädigen; es gab da einige Männer, die ich hoch verehrte und deren Kollege zu werden mir eine beschämende und beglückende Ehre war, und eine Menge von gut erzogenen und hochgebildeten Leuten, es gab auch Arbeit genug und recht viele begabte und liebenswerte Schüler. Nur hatte ich während meiner Lehrzeit bei Pater Jakobus die Entdeckung gemacht, daß ich nicht nur ein Kastalier, sondern auch ein Mensch sei, daß die Welt, die ganze Welt mich angehe und Anspruch auf mein Mitleben in ihr habe. Aus dieser Entdeckung folgten Bedürfnisse, Wünsche, Forderungen, Verpflichtungen, denen ich in keiner Weise nachleben durfte. Das Leben der Welt, wie es der Kastalier ansieht, war etwas Zurückgebliebenes und Minderwertiges, ein Leben der Unordnung und Roheit, der Leidenschaften und der Zerstreutheit, es war nichts Schönes und Begehrenswertes. Aber die Welt und ihr Leben war ja unendlich viel größer und reicher als die Vorstellungen, die sich ein Kastalier von ihr machen konnte, sie war voll Werden, voll Geschichte, voll Versuch und ewig neuem Anfang, sie war vielleicht chaotisch, aber sie war die Heimat und der Mutterboden aller Schicksale, aller Erhebungen, aller Künste, alles Menschentums, sie hatte die Sprachen, die Völker, die Staaten, die Kulturen, sie hatte auch uns und unser Kastalien hervorgebracht und würde sie alle wieder sterben sehen und überdauern. Zu dieser Welt hatte mein Lehrer Jakobus eine Liebe in mir erweckt, welche beständig wuchs und Nahrung suchte, und in Kastalien war nichts, was ihr Nahrung gab, hier war man außerhalb der Welt, war selbst eine kleine, vollkommene und nicht mehr werdende, nicht mehr wachsende Welt.«
Er atmete tief und schwieg eine Weile. Da der Vorstand nichts entgegnete und ihn nur erwartend ansah, nickte er ihm sinnend zu und fuhr fort: »Ich hatte nun zwei Bürden zu tragen, manche Jahre. Ich hatte ein großes Amt zu verwalten und seine Verantwortung zu tragen, und ich hatte mit meiner Liebe fertig zu werden. Das Amt, so viel war mir von Anfang an klar, durfte unter dieser Liebe nicht leiden. Im Gegenteil, es sollte, wie ich dachte, Gewinn von ihr haben. Sollte ich, was ich aber nicht hoffte, meine Arbeit um etwas weniger vollkommen und tadellos tun, als man von einem Magister erwarten kann, so wußte ich doch, daß ich im Herzen wacher und lebendiger war als mancher makellose Kollege und daß ich meinen Schülern und Mitarbeitern dies und jenes zu geben hatte. Meine Aufgabe sah ich darin, das kastalische Leben und Denken ohne Bruch mit der Überlieferung langsam und sanft zu erweitern und zu erwärmen, ihm von der Welt und Geschichte her neues Blut zuzuführen, und eine hübsche Fügung hat es gewollt, daß zur selben Zeit draußen im Lande ein Weltmensch genau ebenso empfand und dachte und von einer Befreundung und Durchdringung von Kastalien und Welt geträumt hat: es war Plinio Designori.«
Meister Alexander verzog den Mund ein wenig, als er sagte: »Nun ja, vom Einfluß dieses Mannes auf Euch habe ich nie viel Erfreuliches erwartet, so wenig wie von Eurem ungeratenen Schützling Tegularius. Und Designori ist es also, der Euch vollends zum Bruch mit der Ordnung gebracht hat?«
»Nein, Domine, aber er hat mir, zum Teil ohne es zu wissen, dabei geholfen. Er brachte etwas Luft in meine Stille, ich kam durch ihn wieder in Berührung mit der Außenwelt, und so erst wurde es mir möglich, einzusehen und mir selber einzugestehen, daß ich am Ende meiner hiesigen Laufbahn sei, daß mir die eigentliche Freude an meiner Arbeit verlorengegangen und daß es Zeit sei, der Plage ein Ende zu machen. Es war wieder eine Stufe zurückgelegt, ich hatte einen Raum durchschritten, und der Raum war diesmal Kastalien.«
»Wie Ihr das ausdrücket!« bemerkte Alexander mit Kopfschütteln. »Als ob der Raum Kastalien nicht groß genug wäre, um viele ihr Leben lang würdig zu beschäftigen! Glaubet Ihr im Ernst, diesen Raum durchmessen und überwunden zu haben?«
»O nein,« rief der andre lebhaft, »nie habe ich so etwas geglaubt. Wenn ich sage, ich sei an die Grenze dieses Raumes gelangt, so meine ich nur: was ich als einzelner und auf meinem Posten hier leisten konnte, ist getan. Ich bin seit einer Weile an der Grenze, wo meine Arbeit als Glasperlenspielmeister zur ewigen Wiederholung, zur leeren Übung und Formel wird, wo ich sie ohne Freude, ohne Begeisterung tue, manchmal sogar ohne Glauben. Es war Zeit, damit aufzuhören.«
Alexander seufzte. »Das ist Eure Auffassung, doch nicht die des Ordens und seiner Regeln. Daß ein Ordensbruder Stimmungen hat, daß er seiner Arbeit zuzeiten müde wird, ist nichts Neues und Merkwürdiges. Die Regeln zeigen ihm alsdann den Weg, um die Harmonie zurückzugewinnen und sich wieder zu zentrieren. Hattet Ihr das vergessen?«
»Ich glaube nicht, Verehrter. Es steht Euch ja der Einblick in meine Amtsführung frei, und eben noch, neulich, als Ihr mein Rundschreiben erhalten hattet, habt Ihr das Spielerdorf und mich kontrollieren lassen. Ihr konntet feststellen, daß die Arbeit getan wird, Kanzlei und Archiv in Ordnung sind, der Magister Ludi weder Krankheit noch Launen zeigt. Ich verdanke es eben jenen Regeln, in die Ihr mich einst so meisterhaft eingeführt habet, daß ich durchgehalten und weder die Kraft noch die Gelassenheit verloren habe. Aber es hat mich große Mühe gekostet. Und nun kostet es mich leider kaum weniger Mühe, Euch davon zu überzeugen, daß es nicht Stimmungen sind, nicht Launen oder Gelüste, von denen ich mich treiben lasse. Aber ob mir das nun gelingt oder nicht, zumindest bestehe ich darauf, daß Ihr anerkennet, meine Person und Leistung sei bis zu dem Augenblick, da Ihr sie zum letztenmal kontrolliert habet, integer und brauchbar gewesen. Sollte ich damit schon zuviel von Euch erwarten?«