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Meister Alexanders Augen blinzelten ein wenig wie spöttisch.

»Herr Kollege,« sagte er, »Ihr sprechet mit mir, als seien wir zwei Privatpersonen, die sich unverbindlich unterhalten. Das trifft aber nur auf Euch zu, Ihr seid ja jetzt in der Tat eine Privatperson. Ich aber bin es nicht, und was ich denke und sage, sage nicht ich, sondern es sagt es der Vorstand der Ordensleitung, und er ist für jedes Wort seiner Behörde verantwortlich. Was Ihr heute hier saget, das wird ohne Folgen sein; es mag Euch damit noch so ernst sein, aber es bleibt die Rede eines Privatmanns, der im eigenen Interesse spricht. Für mich aber bestehen Amt und Verantwortung fort, und es kann Folgen haben, was ich heut sage oder tue. Ich vertrete Euch und Eurer Affäre gegenüber die Behörde. Ob nun die Behörde Eure Darstellung der Vorgänge hinnehmen, vielleicht sogar anerkennen will, ist nicht gleichgültig. – Ihr stellet es mir also so dar, als wäret Ihr, wenn auch mit allerlei aparten Gedanken im Kopf, bis gestern ein einwandfreier, tadelloser Kastalier und Magister gewesen, hättet zwar Anfechtungen und Anfälle von Amtsmüdigkeit erlebt, sie aber regelmäßig bekämpft und bezwungen. Angenommen, ich ließe das gelten, wie aber verstehe ich dann das Ungeheuerliche, daß der einwandfreie, integre Magister, der gestern noch jede Regel erfüllt hat, heute plötzlich desertiert? Da fällt es mir doch leichter, mich in einen Magister hineinzudenken, der schon lange Zeit im Gemüt verändert und erkrankt war und der, während er sich noch immer für einen ganz guten Kastalier hielt, es in Wirklichkeit schon lange nicht mehr war. Auch frage ich mich, warum eigentlich Ihr so viel Wert auf die Feststellung leget, daß Ihr bis in die letzte Zeit ein pflichttreuer Magister wäret. Da Ihr nun einmal den Schritt getan, den Gehorsam gebrochen und Desertion begangen habet, kann Euch doch an solchen Feststellungen nichts mehr gelegen sein.«

Knecht wehrte sich. »Mit Verlaub, Hochverehrter, warum soll mir daran nicht gelegen sein? Es handelt sich um meinen Ruf und Namen, um das Andenken, das ich hier zurücklasse. Es handelt sich damit auch um die Möglichkeit für mich, draußen für Kastalien zu wirken. Ich stehe nicht hier, um etwas für mich zu retten oder gar um die Billigung meines Schrittes durch die Behörde zu erreichen. Ich rechnete damit und ergebe mich darein, von meinen Kollegen künftig bezweifelt und als problematische Erscheinung angesehen zu werden. Als Verräter oder als Verrückter aber will ich nicht angesehen sein, es ist ein Urteil, das ich nicht annehmen kann. Ich habe etwas getan, was Ihr mißbilligen müsset, aber ich habe es getan, weil ich mußte, weil es mir aufgetragen ist, weil es meine Bestimmung ist, an die ich glaube und die ich mit gutem Willen auf mich nehme. Wenn Ihr mir auch dies nicht zugestehen könnet, dann bin ich unterlegen und habe umsonst zu Euch gesprochen.«

»Es geht immer um ein und dasselbe,« antwortete Alexander. »Ich soll zugestehen, daß unter Umständen der Wille eines Einzelnen das Recht haben soll, die Gesetze zu brechen, an die ich glaube und die ich zu vertreten habe. Ich kann aber nicht an unsre Ordnung und zugleich auch noch an Euer privates Recht zur Durchbrechung dieser Ordnung glauben. – Unterbrecht mich nicht, bitte. Ich kann Euch zugestehen, daß Ihr allem Anschein nach von Eurem Recht und dem Sinn Eures fatalen Schrittes überzeugt seid und an eine Berufung zu Eurem Vorhaben glaubet. Daß ich den Schritt selbst billige, erwartet Ihr ja gar nicht. Dagegen habt Ihr allerdings erreicht, daß ich auf meinen anfänglichen Gedanken, Euch zurückzugewinnen und Euren Entschluß zu ändern, verzichtet habe. Ich nehme Euren Austritt aus dem Orden an und übergebe der Behörde die Meldung von Eurem freiwilligen Ausscheiden aus dem Amt. Weiter kann ich Euch nicht entgegenkommen, Josef Knecht.«

Der Glasperlenspielmeister machte eine Gebärde der Ergebenheit. Dann sagte er stilclass="underline" »Ich danke Euch, Herr Vorstand. Das Kästchen habe ich Euch schon anvertraut. Ich übergebe Euch zu Händen der Behörde nun auch meine paar Aufzeichnungen über den Stand der Dinge in Waldzell, vor allem über die Repetentenschaft und jene paar Personen, von welchen ich glaube, daß sie als Nachfolger in meinem Amt vor allem in Betracht kommen.«

Er zog ein paar gefaltete Blätter aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Dann stand er auf, auch der Vorstand erhob sich. Knecht trat auf ihn zu, blickte ihm lang mit trauriger Freundlichkeit in die Augen, verneigte sich und sagte: »Ich hatte Euch bitten wollen, mir zum Abschied die Hand zu geben, darauf muß ich nun wohl verzichten. Ihr seid mir immer besonders teuer gewesen, auch der heutige Tag hat daran nichts geändert. Lebet wohl, mein Lieber und Verehrter.«

Alexander stand still, etwas bleich; einen Augenblick sah es aus, als wolle er die Hand erheben und sie dem Scheidenden reichen. Er fühlte, daß ihm die Augen feucht wurden; da neigte er den Kopf, erwiderte Knechts Verbeugung und ließ ihn gehen.

Als der Fortgehende die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb der Vorstand unbeweglich stehen und horchte auf die sich entfernenden Schritte, und als der letzte verklungen und nichts mehr zu hören war, ging er eine Weile quer durchs Zimmer auf und ab, bis draußen wieder Schritte tönten und leise an die Tür gepocht wurde. Der junge Diener trat ein und meldete einen Besucher, der ihn zu sprechen verlange.

»Sage ihm, daß ich ihn in einer Stunde empfangen kann und daß ich ihn bitte, sich kurz zu fassen, es liegt Dringliches vor. – Nein, warte noch! Geh auch in die Kanzlei und melde dem ersten Sekretär, er möge sofort und eilig die Gesamtbehörde auf übermorgen zu einer Sitzung einberufen, mit dem Vermerk, daß Vollzähligkeit notwendig sei und nur schwere Erkrankung als Entschuldigung für ein Ausbleiben gelte. Dann geh zum Hausmeister und sage ihm, morgen früh müsse ich nach Waldzell fahren, der Wagen habe um sieben bereit zu sein…«

»Mit Erlaubnis,« sagte der Jüngling, »es wäre der Wagen des Herrn Magister Ludi zur Verfügung.«

»Wie denn?«

»Der Ehrwürdige ist gestern zu Wagen angekommen. Soeben hat er das Haus verlassen mit dem Bescheid, er gehe zu Fuß weiter und lasse den Wagen hier zur Verfügung der Behörde.«

»Es ist gut. So nehme ich morgen den Waldzeller Wagen. Wiederholen, bitte.«

Der Diener wiederholte: »Der Besucher wird in einer Stunde empfangen, er soll sich kurz fassen. Der erste Sekretär hat die Behörde auf übermorgen einzuberufen, Vollzähligkeit notwendig, nur schweres Kranksein entschuldigt. Morgen früh um sieben Abreise nach Waldzell mit dem Wagen des Herrn Magister Ludi.«

Meister Alexander atmete auf, als der junge Mensch wieder gegangen war. Er trat zu dem Tisch, an dem er mit Knecht gesessen war, und noch klangen die Schritte dieses Unbegreiflichen in ihm nach, den er vor allen andern geliebt und der ihm so großen Schmerz angetan hatte. Immer hatte er seit den Tagen, da er ihm Dienste geleistet, diesen Mann geliebt, und unter manchen andern Eigenschaften war es gerade auch Knechts Gang gewesen, den er gerngehabt hatte, ein bestimmter und taktfester, aber leichter, ja beinah schwebender Schritt, zwischen würdig und kindlich, zwischen priesterlich und tänzerisch, ein eigenartiger liebenswürdiger und vornehmer Schritt, der ausgezeichnet zu Knechts Gesicht und Stimme paßte. Er paßte nicht minder zu seiner so besonderen Art von Kastalier- und Magistertum, seiner Art von Herrentum und von Heiterkeit, welche manchmal ein wenig an die aristokratisch gemessene seines Vorgängers, des Meisters Thomas, manchmal auch an die einfache und herzgewinnende des Alt-Musikmeisters erinnerte. Nun war er also schon abgereist, der Eilige, zu Fuß, wer weiß wohin, und vermutlich würde er ihn niemals wiedersehen, nie mehr sein Lachen hören und seine schöne langfingrige Hand die Hieroglyphen eines Glasperlenspielsatzes hinmalen sehen. Er griff nach den Blättern, die auf dem Tische liegen geblieben waren, und begann sie zu lesen. Es war ein kurzes Vermächtnis, sehr knapp und sachlich, oft nur Stichworte, statt Sätze, und sollte dazu dienen, der Behörde die Arbeit bei der bevorstehenden Kontrolle des Spielerdorfes und der Neuwahl eines Magisters zu erleichtern. In kleinen hübschen Buchstaben standen die klugen Bemerkungen da, Worte und Handschrift ebenso vom einmaligen und unverwechselbaren Wesen dieses Josef Knecht geprägt wie sein Gesicht, seine Stimme, sein Gang. Schwerlich würde die Behörde einen Mann seines Ranges finden, um ihn zu seinem Nachfolger zu machen; die wirklichen Herren und wirklichen Persönlichkeiten waren eben doch selten, und jede solche Gestalt ein Glücksfall und Geschenk, auch hier in Kastalien, der Elite-Provinz.