Man empfing ihn über sein Erwarten mit einer Auszeichnung und Artigkeit, die ihn beinahe verlegen machte. Es war ja auch das erstemal, daß Kastalien dem Kloster für unbestimmte Zeit einen Glasperlenspiellehrer aus der Elite zur Verfügung stellte. Er hatte beim Vorstand Dubois gelernt, sich namentlich in der ersten Zeit seiner Gastrolle nicht als Person, nur als Vertreter Kastaliens anzusehen und Artigkeiten sowohl wie etwaige Distanzierung lediglich als Abgesandter zur Kenntnis zu nehmen und zu erwidern; das half ihm über die ersten Befangenheiten hinweg. Auch des anfänglichen Gefühls von Fremdheit und der Bangigkeit und leisen Erregtheit der ersten Nächte, in denen er wenig Schlaf genoß, wurde er Meister, und da der Abt Gervasius ihm ein gutmütiges und munteres Wohlwollen zeigte, wurde ihm rasch in der neuen Umwelt wohl. Es erfreute ihn die Frische und Kraft der Landschaft, einer rauhen Berglandschaft mit schroffen Felswänden und saftigen Weiden voll schönen Viehes dazwischen; es beglückte ihn die Wucht und Weiträumigkeit der alten Bauten, welchen die Geschichte vieler Jahrhunderte abzulesen war, es gewann ihn die Schönheit und einfache Behaglichkeit seiner Wohnung, zweier Räume im oberen Stockwerk des langen Gästeflügels, es behagten ihm die Forschungsgänge durch den stattlichen kleinen Staat mit zwei Kirchen, Kreuzgängen, Archiv, Bibliothek, Abtwohnung, mehreren Höfen, mit ausgedehnten Stallbauten voll wohlgehaltenen Viehes, sprudelnden Brunnen, gewölbten riesigen Wein- und Obstkellern, mit zwei Refektorien, dem berühmten Kapitelsaal, den gepflegten Gärten sowie den Werkstätten der Laienbrüder, des Böttchers, Schuhmachers, Schneiders, Schmiedes und so weiter, welche um den größten Hof ein kleines Dorf bildeten. Schon hatte er Zutritt zur Bibliothek, schon hatte ihm der Organist die herrliche Orgel gezeigt und ihm erlaubt, auf ihr zu spielen, und nicht wenig lockten ihn die Notentruhen, wo er eine stattliche Zahl von unveröffentlichten, zum Teil überhaupt noch unbekannten Musikmanuskripten früherer Epochen warten wußte.
Auf den Beginn seiner amtlichen Funktion schien man im Kloster nicht eben ungeduldig zu warten, es dauerte nicht nur Tage, es dauerte Wochen, bis man dem eigentlichen Ziel seines Hierseins ernstlich nähertrat. Zwar hatten sich vom ersten Tage an einige Patres, und namentlich auch der Abt selber, gern mit Josef über das Glasperlenspiel unterhalten, aber von einem Unterricht oder sonst einer systematischen Tätigkeit war noch nicht die Rede. Auch sonst bemerkte Knecht im Gehaben, Lebensstil und Verkehrston der geistlichen Herren ein ihm bisher unbekanntes Tempo, eine gewisse ehrwürdige Langsamkeit, eine langatmige und gutmütige Geduld, an welcher alle diese Väter, auch die persönlich keineswegs temperamentlosen, teilzuhaben schienen. Es war der Geist ihres Ordens, es war der tausendjährige Atem einer uralten, privilegierten, in Glück und Not hundertmal bewährten Ordnung und Gemeinschaft, an welcher sie teilhatten, so wie jede Biene am Schicksal und Ergehen ihres Stockes teilhat, seinen Schlaf schläft, sein Leiden mitleidet, sein Zittern mitzittert. Verglichen mit dem Lebensstil Kastaliens schien dieser benediktinische beim ersten Zusehen weniger geistig, weniger agil und zugespitzt, weniger aktiv, dafür aber gelassener, unbeeinflußbarer, älter, bewährter, es schien hier ein schon längst wieder zur Natur gewordener Geist und Sinn zu walten. Mit Neugierde und großem Interesse, auch mit großer Bewunderung ließ Knecht dies Klosterleben auf sich wirken, das zu einer Zeit, da es noch kein Kastalien gab, schon beinahe gleich wie heute und schon anderthalbtausend Jahre alt gewesen war und das der beschaulichen Seite seiner Natur so sehr entgegenkam. Er war Gast, wurde geehrt, wurde weit über Erwarten und Gebühr geehrt, aber er fühlte deutlich: dies war Form und Usus und galt weder seiner Person, noch galt es dem Geist Kastaliens oder des Glasperlenspiels, es war die majestätische Höflichkeit einer alten Großmacht gegen eine jüngere. Nur zum Teil war er darauf vorbereitet gewesen, und nach einer Weile fühlte er sich, trotz aller Behaglichkeit seines Mariafelser Lebens, so unsicher, daß er bei seiner Behörde um genauere Vorschriften für sein Verhalten bat. Der Magister Ludi schrieb ihm persönlich einige Zeilen. »Mache dir nichts daraus,« hieß es darin, »deinem Studium des dortigen Lebens beliebige Zeit zu opfern. Benütze deine Tage, lerne, suche dich beliebt und nützlich zu machen, soweit man dort dafür empfänglich ist, aber dränge dich nicht auf, scheine niemals ungeduldiger zu sein, scheine nie weniger Muße zu haben als deine Gastgeber. Auch wenn sie dich ein ganzes Jahr lang so behandeln sollten, als sei es dein erster Gasttag in ihrem Hause, so geh ruhig darauf ein und benimm dich, als käme es dir auch auf zwei oder zehn Jahre mehr nicht an. Nimm es als einen Wettkampf im der Übung der Geduld. Sorgfältig meditieren! Dauert dir deine Muße zu lang, so nimm dir täglich einige Stunden, nicht mehr als vier, für eine regelmäßige Arbeit, etwa das Studium oder Kopieren von Handschriften. Aber mache nicht den Eindruck, als arbeitetest du, habe Zeit für jeden, der Lust hat, mit dir zu plaudern.«
Knecht hielt sich daran und fühlte sich bald wieder freier. Er hatte bisher allzusehr an den Lehrauftrag für Liebhaber des Glasperlenspiels gedacht, welcher seiner hiesigen Mission den Namen gab, während die Väter des Klosters ihn mehr als einen bei guter Stimmung zu haltenden Abgesandten einer befreundeten Macht behandelten. Und als am Ende Abt Gervasius doch dieses Lehrauftrags sich erinnerte und ihm vorerst einige Patres zuführte, welche eine erste Einführung in die Glasperlenspielkunst schon genossen hatten und mit denen er einen weiterführenden Kursus abhalten sollte, da zeigte es sich, zu seinem Erstaunen und anfänglich zu seiner schweren Enttäuschung, daß die Kultur des edlen Spieles an diesem gastfreien Orte eine sehr oberflächliche und dilettantische und man dem Anschein nach mit einem sehr bescheidenen Maß an Spielkenntnissen zufrieden war. Und im Gefolge dieser Einsicht kam ihm langsam auch die andere: daß es wohl gar nicht die Glasperlenspielkunst und deren Pflege im Kloster sei, deretwegen man ihn hierher geschickt habe. Die Aufgabe, diese paar dem Spiele läßlich zugeneigten Patres im Elementaren etwas zu fördern und ihnen die Befriedigung einer bescheidenen Sportleistung zu verschaffen, war leicht, allzu leicht, und es wäre ihr jeder beliebige andre Spielkandidat, auch wenn er längst noch nicht der Elite angehörte, gewachsen gewesen. Dieser Unterricht also konnte nicht der eigentliche Zweck seiner Mission sein. Er begann zu begreifen, daß man ihn wohl veniger zum Lehren hierhergeschickt habe als zum Lernen.
Allerdings, gerade als er dies durchschaut zu haben meinte, erfuhr seine Autorität im Kloster doch wieder eine plötzliche Stärkung und damit auch sein Selbstbewußtsein, denn er hatte trotz allen Reizen und Annehmlichkeiten seiner Gastrolle seinen Aufenthalt schon zuweilen beinahe wie eine Strafversetzung empfunden. Nun geschah es eines Tages, daß ihm in einer Unterhaltung mit dem Abte absichtslos eine Anspielung auf das chinesische I Ging unterlief; der Abt horchte aufstellte einige Fragen, und als er seinen Gast so über Erwarten bewandert im Chinesischen und im Buch der Wandlungen fand, konnte er seine Freude nicht verhehlen. Er hatte eine Vorliebe für das I Ging, und wenn er auch kein Chinesisch verstand und sein Wissen um das Orakelbuch und andre chinesische Geheimnisse von jener harmlosen Oberflächlichkeit war, mit welcher die derzeitigen Insassen dieses Klosters in fast allen ihren wissenschaftlichen Interessen sich zu begnügen schienen, so war doch wohl zu merken, daß der kluge und im Vergleich mit seinem Gast so erfahrene und weltkundige Mann zum Geist der altchinesischen Staats- und Lebensweisheit wirklich ein Verhältnis habe. Es ergab sich ein Gespräch von ungewohnter Lebhaftigkeit, das die bisher zwischen Hausherrn und Gast bestehende höfliche Haltung zum erstenmal durchbrach und dazu führte, daß Knecht gebeten wurde, dem ehrwürdigen Herrn zweimal in der Woche eine I-Ging-Lektion zu erteilen.