»Richtig,« sagte Jakobus, »Sie denken dabei unter andrem an die Protestanten. Sie haben die Religion und Kirche nicht zu erhalten vermocht, aber sie haben zuzeiten viel Tapferkeit gezeigt und vorbildliche Männer gehabt. Es gab einige Jahre in meinem Leben, da gehörten die verschiedenen Versöhnungsversuche zwischen den feindlichen christlichen Bekenntnissen und Kirchen zu meinen bevorzugten Studienobjekten, namentlich die der Epoche um 1700, wo wir Leute wie den Philosophen und Mathematiker Leibniz und dann den wunderlichen Grafen Zinzendorf um die Wiedervereinigung der verfeindeten Brüder bemüht finden. Überhaupt ist das achtzehnte Jahrhundert, so schnellfertig und dilettantisch sein Geist oft erscheinen mag, geistesgeschichtlich merkwürdig interessant und doppeldeutig, und gerade die Protestanten jener Zeit haben mich des öfteren beschäftigt. Ich habe da einst einen Philologen, Lehrer und Erzieher großen Formates entdeckt, einen schwäbischen Pietisten übrigens, einen Mann, dessen moralische Nachwirkung sich volle zweihundert Jahre deutlich nachweisen läßt – aber wir kommen da auf ein andres Gebiet, kehren wir zur Frage nach der Legitimität und geschichtlichen Sendung der eigentlichen Orden zurück…«
»Ach nein,« rief Josef Knecht, »bitte verweilen Sie noch bei diesem Lehrer, von dem Sie eben sprechen wollten, beinahe glaube ich ihn erraten zu können.«
»So raten Sie.«
»Ich dachte zuerst an den Hallenser Francke, aber es muß ja ein Schwabe sein, und da kann ich an keinen andern denken als an Johann Albrecht Bengel.«
Ein Lachen klang auf, und ein Glanz von Freude verklärte das Gesicht des Gelehrten. »Sie überraschen mich, Lieber,« rief er lebhaft, »es war richtig Bengel, den ich im Sinn hatte. Woher wissen Sie denn von ihm? Oder gehört es etwa in Ihrer erstaunlichen Provinz zum Selbstverständlichen, daß man so entlegene und vergessene Dinge und Namen kennt? Seien Sie versichert: wenn Sie sämtliche Patres, Lehrer und Schüler unsres Klosters abfragen wollten und auch noch die der letzten paar Generationen dazu, es würde nicht einer diesen Namen wissen.«
»Auch in Kastalien wüßten ihn wenige, vielleicht keiner außer mir und zweien meiner Freunde. Ich war einmal mit Studien aus dem achtzehnten Jahrhundert und dem Bereich des Pietismus beschäftigt, zu einem privaten Zwecke nur, und da sind ein paar schwäbische Theologen mir aufgefallen und gewannen meine Bewunderung und Ehrfurcht, und unter ihnen besonders dieser Bengel, er schien mir damals das Ideal eines Lehrers und Jugendleiters zu sein. Ich war so von diesem Mann eingenommen, daß ich mir sogar ein Bildnis aus einem alten Buche photographieren ließ und es eine Zeitlang über meinem Schreibtisch angeheftet hatte.«
Der Pater lachte noch immer. »Wir begegnen uns da unter einem ungewöhnlichen Zeichen,« sagte er. »Es ist ja schon merkwürdig, daß Sie und ich beide bei unsern Studien auf diesen vergessenen Mann gestoßen sind. Vielleicht noch merkwürdiger ist es, daß es diesem schwäbischen Protestanten gelungen ist, fast gleichzeitig auf einen Benediktinerpater und einen kastalischen Glasperlenspieler zu wirken. Übrigens stelle ich mir Ihr Glasperlenspiel als eine Kunst vor, zu der es vieler Phantasie bedarf, und wundere mich, daß ein so streng nüchterner Mann wie Bengel Sie so sehr anziehen konnte.«
Auch Knecht lachte jetzt vergnügt. »Nun,« sagte er, »wenn Sie sich an Bengels vieljährige Studien über die Offenbarung des Johannes und sein Auslegungssystem für die Prophezeiungen dieses Buches erinnern, so müssen Sie doch zugeben, daß unsrem Freunde auch der Gegenpol der Nüchternheit nicht ganz fremd war.«
»Das stimmt,« gab der Pater heiter zu. »Und wie erklären Sie sich solche Gegensätze?«
»Wenn Sie mir einen Scherz erlauben wollen, so würde ich sagen: was Bengel gefehlt hat und was er, ohne es zu wissen, sehnlich gesucht und begehrt hat, war das Glasperlenspiel. Ich rechne ihn nämlich zu den heimlichen Vorläufern und Ahnen unsres Spiels.«
Vorsichtig und wieder ernst geworden, fragte Jakobus:
»Ein wenig kühn, scheint mir, gerade Bengel für Ihre Ahnentafel zu annektieren. Und wie rechtfertigen Sie das?«
»Es war ein Spaß, aber ein Spaß, der sich verteidigen läßt. Noch in seinen jungen Jahren, ehe die große Bibelarbeit ihn beschäftigte, hat Bengel einmal seinen Freunden den Plan mitgeteilt, er hoffe in einem enzyklopädischen Werk alles Wissen seiner Zeit symmetrisch und synoptisch auf ein Zentrum hin zu ordnen und zusammenzufassen. Das ist nichts andres, als was das Glasperlenspiel auch tut.«
»Es ist der enzyklopädische Gedanke, mit dem das ganze achtzehnte Jahrhundert gespielt hat,« rief der Pater.
»Er ist es,« meinte Josef, »aber Bengel hat nicht bloß ein Nebeneinander der Wissens- und Forschungsgebiete angestrebt, sondern ein Ineinander, eine organische Ordnung, er war unterwegs auf der Suche nach dem Generalnenner. Und das ist einer der elementaren Gedanken des Glasperlenspiels. Und ich möchte noch mehr behaupten, nämlich: wäre Bengel im Besitz eines ähnlichen Systems gewesen, wie unser Spiel eines ist, so wäre ihm wahrscheinlich der große Irrweg mit seiner Umrechnung der prophetischen Zahlen und seiner Verkündigung des Antichrist und des Tausendjährigen Reiches erspart geblieben. Bengel fand für die verschiedenen Begabungen, die er in sich vereinigte, die ersehnte Richtung auf ein gemeinsames Ziel nicht ganz, und so ergab seine mathematische Begabung, in der Zusammenarbeit mit seinem Philologenscharfsinn, jene wunderlich aus Akribie und Phantastik gemischte »Zeiten-Ordnung,« die ihn so manche Jahre beschäftigt hat.«