Sowohl durch die wettkämpferische Freundschaft mit Plinio Designori wie durch jene mit dem weisen alten Pater hatte Knecht, der sonst mit der außerkastalischen Welt in keinerlei nähere Beziehung gekommen war, eine Kenntnis oder eher Ahnung jener Welt erworben, wie sie in Kastalien gewiß wenige besaßen. Mit Ausnahme des Mariafelser Aufenthaltes, der ihm ja ein Bekanntwerden mit dem eigentlichen Weltleben auch nicht bringen konnte, hatte er dies Weltleben nie gesehen und mitgelebt außer in früher Kindheit, aber er hatte durch Designori, durch Jakobus und das Geschichtsstudium eine wache Ahnung von der Wirklichkeit gewonnen, eine zum großen Teil intuitiv entstandene und von sehr geringer Erfahrung begleitete Ahnung, welche ihn aber wissender und weltoffener gemacht hat als die Mehrzahl seiner kastalischen Mitbürger, die Behörden kaum ausgenommen. Immer ist er ein echter und treuer Kastalier gewesen und geblieben, aber nie hat er vergessen, daß Kastalien nur ein Teil, ein kleiner Teil der Welt ist, sei es auch der wertvollste und geliebteste.
Und wie stand es nun um seine Freundschaft mit Fritz Tegularius, dem schwierigen und problematischen Charakter, dem sublimen Artisten des Glasperlenspiels, dem verwöhnten und ängstlichen Nurkastalier, welchem es damals bei seinem kurzen Besuche in Mariafels zwischen den derben Benediktinern so unheimlich und elend geworden war, daß er es dort keine Woche aushalten zu können beteuerte und seinen Freund, der es zwei Jahre dort recht wohl aushielt, darum unendlich bewunderte? Wir haben uns über diese Freundschaft vielerlei Gedanken gemacht, manche mußten wieder verworfen werden, einige schienen standzuhalten; diese Gedanken galten alle der Frage, was denn nun die Wurzel und was der Sinn dieser vieljährigen Freundschaft gewesen sei. Vor allem dürfen wir nicht vergessen, daß bei allen Freundschaften Knechts, höchstens die mit dem Benediktiner ausgenommen, er nicht der suchende, werbende und bedürftige Teil gewesen ist. Er zog an, er wurde bewundert, beneidet und geliebt, einfach um seines adligen Wesens willen, und von einer gewissen Stufe seines »Erwachens« an war er sich dieser Gabe auch bewußt. So war er auch, schon in den ersten Studentenjahren, von Tegularius bewundert und umworben worden, hatte ihn aber stets in einer gewissen Distanz gehalten. Immerhin zeigen uns manche Merkmale, daß er dem Freunde wirklich zugetan war. Wir sind nun der Meinung, daß es nicht bloß dessen außergewöhnliche Begabung, seine rastlose und namentlich allen Problemen des Glasperlenspiels offenstehende Genialität war, welche für Knecht etwas Anziehendes hatte. Sondern dessen starkes und dauerndes Interesse galt nicht nur der großen Begabung des Freundes, es galt ebensosehr dessen Fehlern, seiner Kränklichkeit, es galt gerade dem, was den andern Waldzellern an Tegularius störend und oft unleidlich war. Dieser wunderliche Mensch war so sehr Kastalier, seine ganze Art zu existieren wäre außerhalb der Provinz undenkbar gewesen und hatte deren Atmosphäre und Bildungshöhe so sehr zur Voraussetzung, daß man, wäre nur eben seine Schwierigkeit und Wunderlichkeit nicht gewesen, ihn geradezu als einen Erzkastalier hätte bezeichnen können. Und dennoch paßte dieser Erzkastalier schlecht zu seinen Kameraden, war so wenig bei ihnen wie bei den Vorgesetzten und Beamten beliebt, störte beständig, gab immerzu Anstoß und wäre ohne den Schutz und die Führung durch seinen tapfern und klugen Freund wahrscheinlich früh zugrunde gegangen. Was man seine Krankheit nannte, war schließlich vorwiegend ein Laster, eine Unbotmäßigkeit, ein Charakterfehler, nämlich eine im tiefsten unhierarchische, völlig individualistische Gesinnung und Lebensführung; er fügte sich gerade nur soweit in die bestehende Ordnung ein, als notwendig war, um im Orden überhaupt geduldet zu werden. Er war insofern ein guter, ja glänzender Kastalier, als er ein vielseitiger, in der Gelehrsamkeit ebenso wie in der Glasperlenspielkunst unermüdlich und unersättlich fleißiger Geist war; aber ein sehr mittelmäßiger, ja schlechter Kastalier war er im Charakter, in der Einstellung zur Hierarchie und zur Ordensmoral. Das größte seiner Laster war ein dauerndes Leichtnehmen und Vernachlässigen der Meditation, deren Sinn ja die Einordnung des Individuums ist und deren gewissenhafte Pflege ihn sehr wohl von seiner Nervenkrankheit hätte heilen können, denn im kleinen und einzelnen tat sie es jedesmal, wenn er nach einer Periode schlechter Führung und aufgeregten oder melancholischen Wesens von den Oberen strafweise zu strengen Meditationsübungen unter Aufsicht gezwungen wurde, ein Mittel, zu welchen auch der wohlwollende und schonende Knecht des öftern hat greifen müssen. Nein, Tegularius war ein eigenwilliger, launischer, zur ernstlichen Einordnung nicht gewillter Charakter, immer wieder zwar von lebendiger Geistigkeit und in angeregten Stunden bezaubernd, wo sein pessimistischer Witz sprühte und keiner sich der Kühnheit und oft düstern Pracht seiner Einfälle entziehen konnte, aber er war im Grunde unheilbar, denn er wollte gar nicht geheilt sein, er gab nichts auf Harmonie und Einordnung, er liebte nichts als seine Freiheit, sein ewiges Studententum, und zog es vor, lebenslänglich der Leidende, der Unberechenbare und störrische Einzelgänger zu sein, der geniale Narr und Nihilist, statt den Weg der Einordnung in die Hierarchie zu gehen und zum Frieden zu gelangen. Er hielt nichts vom Frieden, er gab nichts auf die Hierarchie, er machte sich wenig aus Tadel und Vereinsamung. Ein höchst unbequemer und unverdaulicher Bestand also in einer Gemeinschaft, deren Ideal Harmonie und Ordnung ist! Aber eben in dieser Schwierigkeit und Unverdaulichkeit war er inmitten einer so geklärten und geordneten kleinen Welt eine beständige lebendige Unruhe, ein Vorwurf, eine Mahnung und Warnung, ein Anreger zu neuen, kühnen, verbotenen, vermessenen Gedanken, ein bockiges, unartiges Schaf in der Herde. Und dies, meinen wir, war es, wodurch er trotz allem diesen Freund gewann. Gewiß hat in Knechts Verhältnis zu ihm stets auch das Mitleid eine Rolle gespielt, der Appell des Gefährdeten und meist Unglücklichen an alle ritterlichen Gefühle des Freundes. Aber dies hätte nicht genügt, auch nach Knechts Erhebung zur Meisterwürde, inmitten eines mit Arbeit, Pflichten und Verantwortung überladenen Amtslebens, dieser Freundschaft das Leben zu fristen. Wir sind der Auffassung, daß in Knechts Leben dieser Tegularius nicht minder notwendig und wichtig war, als Designori und der Pater in Mariafels es waren, und zwar war er es gleich jenen beiden als ein weckendes Element, als ein offenes Fensterchen nach neuen Ausblicken hin. In diesem so merkwürdigen Freunde hat Knecht, wie wir glauben, den Vertreter eines Typus erspürt und mit der Zeit auch bewußt erkannt, eines Typus, der noch nicht vorhanden war außer in dieser einzigen Vorläufergestalt, den Typus des Kastaliers nämlich, wie er einmal werden könnte, wenn nicht durch neue Begegnungen und Impulse das Leben Kastaliens sollte verjüngt und gekräftigt werden können. Tegularius war, wie die meisten einsamen Genies, ein Vorläufer. Er lebte tatsächlich in einem Kastalien, das noch nicht da war, aber morgen da sein konnte, in einem nach der Welt hin noch abgeschlossenem, innerlich durch Alterung und Lockerung der meditativen Ordensmoral entartenden Kastalien, einer Welt, in welcher noch immer die höchsten Geistesflüge und die versunkenste Hingabe an hohe Werte möglich waren, wo aber eine hochentwickelte und frei spielende Geistigkeit keine Ziele mehr hatte als den Selbstgenuß ihrer hochgezüchteten Fähigkeiten. Tegularius bedeutete für Knecht zugleich die Verkörperung höchster kastalischer Fähigkeiten und das mahnende Vorzeichen für deren Demoralisierung und Untergang. Es war wunderbar und köstlich, daß es diesen Fritz gab. Aber die Auflösung Kastaliens in ein von lauter Tegulariussen bevölkertes Traumreich mußte verhindert werden. Die Gefahr, daß es dazu kommen könnte, war noch fern, aber sie war vorhanden. Das Kastalien, wie Knecht es kannte, brauchte nur die Mauern seiner vornehmen Isoliertheit noch ein wenig höher zu bauen, es brauchte nur ein Verfall der Ordenszucht, ein Sinken der hierarchischen Moral hinzuzukommen, so war Tegularius kein wunderlicher Einzelner mehr, sondern der Repräsentant eines entartenden und niedergehenden Kastaliens. Daß die Möglichkeit, ja der Beginn oder eine Disponiertheit zu solchem Verfall vorhanden sei, diese wichtigste Erkenntnis und Sorge des Magisters Knecht wäre ihm vermutlich weit später oder am Ende nie gekommen, hätte nicht neben ihm, und von ihm aufs genaueste gekannt, dieser Zukunftskastalier gelebt; er war für Knechts wachen Sinn ein Symptom und Mahnruf, wie es für einen klugen Arzt der erste von einer noch unbekannten Krankheit Befallene wäre. Und Fritz war ja kein Durchschnittsmensch, er war ein Aristokrat, eine Begabung von hohen Graden. Würde die noch unbekannte, im Vorläufer Tegularius zum erstenmal sichtbar gewordene Krankheit einmal um sich greifen und das Bild des kastalischen Menschen ändern, würden Provinz und Orden einmal die entartete, kranke Gestalt annehmen, so würden diese Zukunftskastalier nicht lauter Tegulariusse sein, sie würden nicht seine köstlichen Gaben, seine melancholische Genialität, seine flackernde Artistenleidenschaft besitzen, sondern die Mehrzahl von ihnen würde nur seine Unzuverlässigkeit, seinen Hang zur Verspieltheit, seinen Mangel an Zucht und Gemeinsinn haben. In sorgenvollen Stunden mag Knecht solche düstern Visionen und Vorahnungen gehabt haben, deren Bewältigung teils durch Versenkung, teils durch erhöhte Tätigkeit ihn gewiß viel Kraft gekostet hat.