Da er einen Augenblick nachdenklich schwieg, sagte Knecht behutsam: »Es ist wohl nicht so schlimm mit dem Nichtverstehenkönnen. Gewiß, zwei Völker und zwei Sprachen werden einander nie sich so verständlich und so intim mitteilen können wie zwei einzelne, die derselben Nation und Sprache angehören. Aber das ist kein Grund, auf Verständigung und Mitteilung zu verzichten. Auch zwischen Volks- und Sprachgenossen stehen Schranken, die eine volle Mitteilung und ein volles gegenseitiges Verstehen verhindern, Schranken der Bildung, der Erziehung, der Begabung, der Individualität. Man kann behaupten, jeder Mensch auf Erden könne grundsätzlich mit jedem andern sich aussprechen, und man kann behaupten, es gebe überhaupt keine zwei Menschen in der Welt, zwischen denen eine echte, lückenlose, intime Mitteilung und Verständigung möglich sei – eins ist so wahr wie das andre. Es ist Yin und Yang, Tag und Nacht, beide haben recht, an beide muß man zuzeiten erinnert werden, und ich gebe dir insoweit recht, als auch ich natürlich nicht glaube, daß wir beide uns einander jemals ganz und gar und restlos werden verständlich machen können. Magst du ein Abendländer, ich ein Chinese sein, mögen wir verschiedene Sprachen reden, so werden wir dennoch, wenn wir guten Willens sind, einander sehr viel mitteilen und über das exakt Mitteilbare hinaus sehr viel voneinander erraten und ahnen können. Jedenfalls wollen wir es versuchen.«
Designori nickte und fuhr fort: »Ich will vorerst das wenige erzählen, was du wissen mußt, um etwa eine Ahnung von meiner Situation zu bekommen. Also da ist zunächst die Familie, die oberste Macht im Leben eines jungen Menschen, er mag sie anerkennen oder nicht. Ich bin mit ihr gut ausgekommen, solange ich Hospitant eurer Eliteschulen war. Das Jahr hindurch war ich bei euch gut aufgehoben, in den Ferien wurde ich zu Hause gefeiert und verwöhnt, ich war der einzige Sohn. An meiner Mutter hing ich mit einer zärtlichen, ja leidenschaftlichen Liebe, die Trennung von ihr war der einzige Schmerz, den ich bei jeder Abreise empfand. Mit dem Vater stand ich in einem kühleren, aber freundlichen Verhältnis, wenigstens während all der Knaben- und Jünglingsjahre, die ich bei euch verbrachte; er war ein alter Kastalienverehrer und stolz darauf, mich in den Eliteschulen erzogen und in so sublime Dinge wie das Glasperlenspiel eingeweiht zu sehen. Diese heimatlichen Ferienaufenthalte waren oft wahrhaft hochgestimmt und festlich, die Familie und ich kannten einander gewissermaßen nur noch in Festkleidern. Manchmal, wenn ich so in die Ferien reiste, habe ich euch Zurückbleibende bedauert, die von solchem Glück nichts wußten. Ich brauche von damals nicht viel zu sagen, du hast mich ja gekannt, besser als irgendein anderer. Ich war beinah ein Kastalier, ein bißchen weltfroher, derber und oberflächlicher vielleicht, aber voll glücklichen Übermuts, beschwingt und enthusiastisch. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, was ich damals freilich nicht ahnte, denn in jenen Waldzeller Jahren erwartete ich das Glück und die Höhe meines Lebens von der Zeit, da ich aus euren Schulen entlassen heimkehren und mir mit Hilfe meiner bei euch erworbenen Überlegenheit die dortige Welt erobern würde. Statt dessen begann nach meinem Abschied von dir für mich eine Auseinandersetzung, die bis heute dauert, und ein Kampf, in dem ich nicht Sieger geblieben bin. Denn die Heimat, in die ich zurückkam, bestand diesmal nicht mehr nur aus meinem Vaterhause und hatte keineswegs darauf gewartet, mich umarmen und meine Waldzeller Vornehmheit anerkennen zu dürfen, und auch im Vaterhause selbst gab es bald Enttäuschungen, Schwierigkeiten und Mißtöne. Es dauerte eine Weile, bis ich es merkte, ich war durch mein naives Vertrauen, meinen knabenhaften Glauben an mich und mein Glück geschützt und geschützt auch durch die von euch mitgebrachte Ordensmoral, durch die Gewohnheit der Meditation. Aber welche Enttäuschung und Ernüchterung brachte die Hochschule, an der ich die politischen Fächer studieren wollte! Der Umgangston unter den Studenten, das Niveau ihrer allgemeinen Bildung und ihrer Geselligkeit, die Persönlichkeiten mancher Lehrer, wie stachen sie ab von dem, woran ich mich bei euch gewöhnt hatte! Du erinnerst dich, wie ich einst unsere Welt gegen die eure verteidigt und dabei im Lob des ungebrochenen, naiven Lebens den Mund oft recht voll genommen habe. Wenn das eine Strafe verdiente, Freund, dann bin ich schwer dafür bestraft worden. Denn dieses naive, unschuldige Triebleben, diese Kindlichkeit und undressierte Genialität des Naiven, sie mochte wohl irgendwo vorhanden sein, bei den Bauern vielleicht oder den Handwerkern oder wo sonst, aber es gelang mir nicht, sie zu Gesicht zu bekommen oder gar an ihr teilzuhaben. Du erinnerst dich auch, nicht wahr, wie ich in meinen Reden die Überheblichkeit und Gespreiztheit der Kastalier kritisierte, dieser eingebildeten und verweichlichten Kaste mit ihrem Kastengeist und ihrem Elitehochmut. Nun, die Weltleute waren auf ihre schlechten Manieren, ihre geringe Bildung, ihren derben lauten Humor, ihre dummschlaue Beschränkung auf praktische, selbstsüchtige Ziele nicht weniger stolz, sie kamen sich nicht weniger kostbar, gottgefällig und auserwählt vor in ihrer engstirnigen Natürlichkeit, als der affektierteste Waldzeller Musterschüler es jemals tun konnte. Sie lachten mich aus oder klopften mir auf die Schulter, manche aber reagierten auf das Fremde, Kastalische in mir mit dem offenen, blanken Haß, den das Gemeine gegen alles Vornehme hat und den ich wie eine Auszeichnung auf mich zu nehmen entschlossen war.«
Designori machte eine kurze Pause und warf einen Blick auf Knecht, ungewiß, ob er ihn nicht ermüde. Sein Blick begegnete dem des Freundes und fand in ihm einen Ausdruck tiefer Aufmerksamkeit und Freundlichkeit, der ihm wohltat und ihn beruhigte. Er sah, der andre war ganz seiner Eröffnung hingegeben, er hörte nicht zu, wie man einem Geplauder zuhört oder auch einer interessanten Erzählung, sondern mit der Ausschließlichkeit und Hingabe, mit der man sich in einer Meditation konzentriert, und dabei mit einem reinen, herzlichen Wohlwollen, dessen Ausdruck in Knechts Blick ihn rührte, so herzlich und beinahe kindlich schien er ihm, und es ergriff ihn eine Art von Staunen darüber, diesen Ausdruck im Gesicht desselben Mannes zu sehen, dessen vielfältiges Tagewerk, dessen amtliche Weisheit und Autorität er diesen ganzen Tag hindurch bewundert hatte. Erleichtert fuhr er fort:
»Ich weiß nicht, ob mein Leben nutzlos und bloß ein Mißverständnis war oder ob es einen Sinn hat. Sollte es einen Sinn haben, so wäre es etwa der, daß ein einzelner, konkreter Mensch unserer Zeit einmal auf das deutlichste und schmerzlichste erkannt und erlebt hat, wie weit Kastalien sich von seinem Mutterlande entfernt hat, oder meinetwegen auch umgekehrt: wie sehr unser Land seiner edelsten Provinz und deren Geist fremd und untreu geworden ist, wie weit in unsrem Lande Leib und Seele, Ideal und Wirklichkeit auseinanderklaffen, wie wenig sie voneinander wissen und wissen wollen. Wenn ich im Leben eine Aufgabe und ein Ideal hatte, so war es das, aus meiner Person eine Synthese der beiden Prinzipien zu machen, zwischen beiden zum Vermittler, Dolmetsch und Versöhner zu werden. Ich habe es versucht und bin gescheitert. Und da ich dir ja doch nicht mein ganzes Leben erzählen kann und du auch nicht alles verstehen könntest, will ich dir nur eine von den Situationen vorführen, die für mein Scheitern bezeichnend sind. Die Schwierigkeit damals nach dem Beginn meines Studiums an der Hochschule bestand nicht sosehr darin, mit den Hänseleien oder Anfeindungen fertig zu werden, die mir als einem Kastalier, einem Musterknaben zuteil wurden. Die paar unter meinen neuen Kameraden, welchen meine Herkunft aus den Eliteschulen eine Auszeichnung und Sensation bedeutete, machten mir sogar mehr zu schaffen und brachten mich in größere Verlegenheit. Nein, das Schwierige und vielleicht Unmögliche war, inmitten der Weltlichkeit ein Leben im kastalischen Sinn weiterzuführen. Anfangs merkte ich es kaum, ich hielt mich an die Regeln, wie ich sie bei euch gelernt hatte, und längere Zeit schienen sie sich auch hier zu bewähren, sie schienen mich zu stärken und zu schützen, schienen mir Munterkeit und innere Gesundheit zu erhalten und mich in meinem Vorsatz zu bestärken, in dem Vorsatz nämlich, allein und selbständig meine Studienjahre möglichst auf kastalische Art hinzubringen, einzig meinem Wissensdurst nachzugehen und mich nicht in einen Studiengang zwingen zu lassen, der nichts wollte, als den Studenten in möglichst kurzer Zeit möglichst gründlich für einen Brotberuf zu spezialisieren und jede Ahnung von Freiheit und Universalität in ihm abzutöten. Aber der Schutz, den Kastalien mir mitgegeben hatte, erwies sich als gefährlich und zweifelhaft, denn ich wollte ja nicht resignierend und eremitenhaft meinen Seelenfrieden und meine meditative Geistesruhe bewahren, ich wollte ja die Welt erobern, sie verstehen, sie zwingen, auch mich zu verstehen, ich wollte sie bejahen und womöglich erneuern und verbessern, ich wollte ja in meiner Person Kastalien und die Welt zusammenbringen und versöhnen. Wenn ich nach einer Enttäuschung, einem Streit, einer Aufregung mich in die Meditation zurückzog, so war dies anfangs jedesmal eine Wohltat, eine Entspannung, ein Tiefatmen, eine Rückkehr zu guten, freundlichen Mächten. Mit der Zeit aber merkte ich, daß es gerade die Versenkung, die Pflege und Übung der Seele sei, die mich dort isolierte, die mich den andern so unangenehm fremd erscheinen ließ und mich selbst unfähig machte, sie wirklich zu verstehen. Die andern, die Weltleute, wirklich verstehen, sah ich, konnte ich nur dann, wenn ich wieder wurde wie sie, wenn ich nichts vor ihnen voraushatte, auch nicht diese Zuflucht in die Versenkung. Natürlich ist es aber auch wohl möglich, daß ich den Vorgang beschönige, wenn ich ihn so darstelle. Vielleicht, oder wahrscheinlich, war es einfach so, daß ich ohne gleichgeschulte und gleichgestimmte Kameraden, ohne Kontrolle durch Lehrer, ohne die bewahrende und heilsame Atmosphäre Waldzells allmählich die Disziplin verlor, daß ich trag und unaufmerksam wurde und in Schlendrian verfiel und dies dann in Augenblicken des schlechten Gewissens damit entschuldigte, Schlendrian sei nun einmal eines der Attribute dieser Welt, und indem ich mich ihm überlasse, komme ich dem Verständnis meiner Umgebung näher. Es liegt mir dir gegenüber nichts am Beschönigen, aber ich möchte auch nicht leugnen und verhehlen, daß ich mir Mühe gegeben, gestrebt und gekämpft habe, auch dort, wo ich irrte. Es war mir Ernst. Aber ob nun mein Versuch, mich verstehend und sinnvoll einzuordnen, nur eine Einbildung von mir war oder nicht, jedenfalls geschah das Natürliche, die Welt war stärker als ich und hat mich langsam überwältigt und eingeschluckt; es war genau so, als sollte ich vom Leben beim Wort genommen und völlig der Welt angeglichen werden, deren Richtigkeit, Naivität, Stärke und ontische Überlegenheit ich in unseren Waldzeller Disputationen so sehr gepriesen und gegen deine Logik verteidigt hatte. Du erinnerst dich.