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Der phosphoreszierende Widerschein des Schirms spiegelte sich auf seinem kahlen Kopf und in der Brille des Assistenzarztes. Lillian wurde es jedes Mal etwas schlecht, wenn sie so atmen und nicht atmen mußte — es war wie kurz vor einer Ohnmacht.

Die Untersuchung dauerte länger als gewöhnlich. »Zeigen Sie mir noch einmal das Krankenblatt«, sagte der Dalai Lama.

Die Schwester knipste das Licht an. Lillian stand neben dem Schirm und wartete. »Sie hatten zwei Rippenfellentzündungen?« fragte der Dalai Lama. »Eine durch Ihre eigene Unvorsichtigkeit?«

Lillian antwortete nicht sofort. Wozu fragte er? Es stand ja im Krankenblatt. Oder hatte das Krokodil geklatscht, und er wollte jetzt alte Sachen wieder aufwärmen, um ihr neuen Krach zu machen? »Stimmt es, Fräulein Dunkerque?« wiederholte der Professor.

»Ja.«

»Sie hatten Glück. Fast keine Verwachsungen. Woher aber zum Teufel —«

Der Dalai Lama blickte auf. »Sie können ins Zimmer nebenan gehen. Bitte, machen Sie sich zurecht zum Auffüllen des Pneumos.«

Lillian folgte der Schwester. »Was ist es?« flüsterte sie. »Flüssigkeit?«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Vielleicht die Temperaturschwankungen —«

»Aber das hat doch nichts mit meinen Lungen zu tun! Es ist nur die Aufregung! Miss Somervilles Abreise! Der Föhn! Ich bin doch negativ! Ich bin doch nicht positiv! Oder doch?«

»Nein, nein. Kommen Sie, legen Sie sich hin! Sie müssen fertig sein, wenn der Professor kommt.«

Die Schwester rückte die Maschine heran. Es nützt nichts, dachte Lillian. Für Wochen habe ich nun alles getan, was sie wollten, und anstatt besser ist es sicher wieder schlechter geworden. Daß ich gestern ausgerissen bin, kann nicht der Grund sein; ich habe ja heute kein Fieber — vielleicht hätte ich sogar welches gehabt, wäre ich im Sanatorium geblieben, das weiß man nie. Was will er jetzt mit mir machen? Wird er in mir herumbohren und mich punktieren, oder wird er mich nur wieder auffüllen wie einen müden Ballon?

Der Professor kam herein. »Ich habe kein Fieber«, sagte Lillian rasch. »Es ist nur etwas Aufregung. Schon seit einer Woche habe ich kein Fieber mehr, und vorher hatte ich es auch nur, wenn ich aufgeregt war. Es ist nicht organisch —«

Der Dalai Lama setzte sich neben sie und fühlte nach einem Punkt für die Spritze. »Bleiben Sie für die nächsten Tage im Zimmer.«

»Ich kann nicht immer im Bett bleiben. Davon bekomme ich ja gerade das Fieber. Es macht mich verrückt.«

»Sie brauchen nur im Zimmer zu bleiben. Heute im Bett, Jod, Schwester; hier.«

* * *

Lillian betrachtete den braunen Jodfleck, während sie sich in ihrem Zimmer umzog. Dann holte sie die Flasche Wodka unter ihrer Wäsche hervor und goß ein Glas ein, während sie nach dem Korridor horchte. Die Schwester mußte jeden Augenblick mit ihrem Abendessen kommen, und sie wollte heute nicht beim Trinken erwischt werden.

Ich bin noch nicht zu dünn, dachte sie und stellte sich vor den Spiegel. Ich habe ein halbes Pfund zugenommen. Eine große Leistung. Sie trank sich ironisch zu und versteckte die Flasche wieder. Von draußen hörte sie jetzt den Wagen mit ihrem Essen. Sie griff nach einem Kleid.

»Ziehen Sie sich an?« fragte die Schwester. »Sie dürfen doch nicht hinaus.«

»Ich ziehe mich an, weil ich mich dann besser fühle.« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Warum legen Sie sich nicht zu Bett? Ich wollte, ich bekäme einmal mein Essen im Bett serviert.«

»Legen Sie sich in den Schnee, bis Sie Lungenentzündung haben«, sagte Lillian. »Dann bekommen Sie es im Bett serviert.«

»Nicht ich. Ich würde mich höchstens erkälten und einen kleinen Schnupfen bekommen. Hier ist ein Paket für Sie. Es sieht aus wie Blumen.«

Boris, dachte Lillian und nahm den weißen Karton.

»Wollen Sie es nicht aufmachen?« fragte die Schwester neugierig.

»Später.«

Lillian stocherte eine Weile in ihrem Essen herum, dann ließ sie es wegräumen. Die Schwester machte inzwischen ihr Bett. »Wollen sie nicht Ihr Radio anstellen?« fragte sie. »Es ist doch unterhaltend!«

»Wenn Sie es hören wollen, stellen Sie es an!«

Die Schwester begann an den Knöpfen zu drehen. Zürich kam mit einem Vortrag über Conrad Ferdinand Meyer und Lausanne mit Nachrichten. Sie drehte weiter, und auf einmal war Paris da. Ein Pianist spielte Debussy. Lillian ging zum Fenster und wartete darauf, daß die Schwester fertig würde und das Zimmer verließe. Sie starrte in den abendlichen Nebel und hörte die Musik aus Paris, und sie war ihr unerträglich.

»Kennen Sie Paris?« fragte die Schwester.

»Ja.«

»Ich nicht. Es muß wunderbar sein!«

»Es war kalt und dunkel und trostlos und von den Deutschen okkupiert, als ich da war.«

Die Schwester lachte. »Das ist doch längst vorbei. Schon ein paar Jahre. Jetzt ist alles sicher wieder wie vor dem Kriege. Möchten Sie nicht wieder hin?«

»Nein«, erwiderte Lillian hart. »Wer will schon nach Paris im Winter? Sind Sie fertig?«

»Ja, ja, gleich. Wozu haben Sie es so eilig? Es ist ja doch nichts weiter zu tun hier.«

Die Schwester ging endlich. Lillian stellte das Radio ab. Ja, dachte sie, hier war nichts weiter zu tun. Man konnte nur warten. Warten, worauf? Darauf, daß das Leben immer wieder nur aus Warten bestand?

Sie öffnete den weißen Karton mit der blauen Seidenschleife. Boris hat sich damit abgefunden, hier oben zu bleiben, dachte sie — oder wenigstens das war es, was er sagte. Aber ich?

Sie schlug das Seidenpapier auseinander, das die Blumen umhüllte, und ließ den Karton im gleichen Augenblick fallen, als hätte er eine Schlange enthalten.

Sie starrte auf die Orchideen am Boden. Sie kannte die Blumen. Zufall, dachte sie, ein ekelhafter Zufall, es sind andere, nicht dieselben, andere, ähnliche! Aber sie wußte zur gleichen Zeit, daß solche Zufälle nicht vorkamen, und Orchideen dieser Art gab es nicht auf Vorrat im Dorf. Sie hatte selbst danach gesucht und sie nicht gefunden und sie dann aus Zürich kommen lassen. Sie zählte die Blüten. Die Zahl stimmte. Dann sah sie, daß an der untersten Blüte ein Blatt fehlte, und sie erinnerte sich, das bemerkt zu haben, als das Paket aus Zürich angekommen war. Es war kein Zweifel mehr möglich — die Blumen, die auf dem Teppich vor ihr lagen, waren dieselben, die sie auf den Sarg Agnes Somervilles gelegt hatte.

Ich werde hysterisch, dachte sie. Dies alles muß sich erklären lassen; es sind keine Geisterblumen, die sich manifestiert haben, jemand muß sich einen scheußlichen Spaß mit mir gemacht haben, aber warum? Und wie? Wie kamen diese Orchideen wieder hierher? Und was sollte dieser Handschuh daneben, der wie eine tote, schwarzgewordene Hand aussah, die drohend durch den Boden griff, als wäre er das Symbol einer Geistermafia?

Sie ging um den Zweig herum, als wäre er wirklich eine Schlange. Die Blüten schienen keine Blüten mehr zu sein; die Berührung mit dem Tode hatte sie unheimlich gemacht, und das Weiß war weißer als alles, was sie je gesehen hatte. Rasch öffnete sie die Tür zu ihrem Balkon, faßte vorsichtig das Seidenpapier und mit ihm den Zweig und warf beides über den Balkon nach draußen. Den Karton warf sie hinterher. Sie horchte einen Augenblick in den Nebel. Ferne Stimmen und Geläute von Schlitten kamen hindurch. Sie ging zurück und sah den Handschuh auf dem Boden. Sie erkannte ihn jetzt und erinnerte sich, ihn getragen zu haben, als sie mit Clerfayt in der Palace Bar gewesen war. Clerfayt, dachte sie, was hatte er damit zu tun? Sie mußte es erfahren! Sofort!

Es dauerte eine Weile, bevor er zum Telefon kam.

»Haben Sie mir meinen Handschuh zurückgeschickt?« fragte sie.

»Ja. Sie hatten ihn in der Bar vergessen.«

»Sind die Blumen auch von Ihnen? Die Orchideen?«

»Ja. Haben sie meine Karte nicht bekommen?«

»Ihre Karte?«

»Haben Sie sie nicht gefunden?«