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Sie griff nach ihrer Tasche, aber sie stand nicht auf. Clerfayt hatte von ihr für heute auch genug, aber er hätte sie um nichts in der Welt gehen lassen, solange Wolkow noch an der Bar stand und auf sie wartete — so alt war er nun doch noch nicht, dachte er. »Sie brauchen mit mir nicht besonders vorsichtig zu sein«, sagte er. »Ich bin nicht sehr empfindlich.«

»Hier ist jeder empfindlich.«

»Ich bin nicht von hier.«

»Ja.« Lillian lächelte plötzlich. »Das ist es wohl!«

»Was?«

»Das, was uns irritiert. Verstehen Sie das nicht? Sogar Hollmann, Ihren Freund.«

»Das ist möglich«, erwiderte Clerfayt überrascht.

»Ich hätte wahrscheinlich nicht kommen sollen. Irritiere ich Wolkow auch?«

»Haben Sie das nicht bemerkt?«

»Möglich. Warum gibt er sich aber dann soviel Mühe, es mich merken zu lassen?«

»Er geht«, sagte Lillian.

Clerfayt sah es. »Und Sie?« fragte er. »Sollten Sie nicht auch besser im Sanatorium sein?«

»Wer weiß das? Der Dalai Lama? Ich? Das Krokodil? Gott?«

Sie nahm ihr Glas. »Und wer ist verantwortlich? Wer? Ich? Gott? Und wer für wen? Kommen Sie, wir wollen tanzen?«

Clerfayt blieb sitzen. Sie starrte ihn an. »Haben Sie auch Angst für mich? Meinen Sie auch, ich sollte —«

»Ich meine gar nichts«, erwiderte Clerfayt. »Ich kann nur nicht tanzen; aber wenn Sie wollen, können wir es versuchen.«

Sie gingen zur Tanzfläche. »Agnes Somerville hat immer alles getan, was ihr vom Dalai Lama vorgeschrieben wurde«, sagte Lillian, als der Lärm der stampfenden Touristen sich um sie schloß. »Alles —«

4

Das Sanatorium war still. Die Kranken machten Liegekur. Sie lagen schweigend auf ihren Betten und Liegestühlen, hingebreitet wie Opfer, in denen die müde Luft einen lautlosen Kampf mit dem Feind führte; der im warmen Dunkel der Lungen versteckt fraß.

Lillian Dunkerque hockte in hellblauen Hosen auf ihrem Balkon. Die Nacht war weit weg und vergessen. Das war immer hier oben so — wenn der Morgen erreicht war, fiel die Panik der Nacht zusammen wie ein Schatten am Horizont, und man konnte sie kaum noch begreifen. Lillian dehnte sich im Licht des späten Vormittags. Es war ein weicher, schimmernder Vorhang, der das Gestern verdeckte und das Morgen unwirklich machte. Vor ihr im Schnee, der nachts auf den Balkon geweht war, steckte die Flasche Wodka, die Clerfayt ihr gegeben hatte.

Das Telefon klingelte. Sie hob den Hörer ab. »Ja, Boris — nein, natürlich nicht — wohin kämen wir, wenn wir das täten? — Lass uns nicht darüber reden — natürlich kannst du heraufkommen — ja, ich bin allein, wer sollte schon hier sein — ?«

Sie ging auf den Balkon zurück. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie die Flasche Wodka verstecken sollte; aber dann holte sie ein Glas und öffnete sie. Der Wodka war sehr kalt und sehr gut. »Guten Morgen, Boris«, sagte sie, als sie die Tür hörte. »Ich trinke Wodka. Willst du auch einen? Dann bring ein Glas.« Sie streckte sich auf dem Liegestuhl aus und wartete. Wolkow kam auf den Balkon, ein Glas in der Hand.

Lillian atmete auf; Gottlob, keine Predigt, dachte sie. Er schenkte sich ein Glas ein. Sie hielt ihm ihres hin. Er goß es voll. »Warum, Duscha?« fragte er. »Röntgenpanik?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Fieber?«

»Auch nicht. Eher Untertemperatur.«

»Hat der Dalai Lama schon etwas zu deinen Aufnahmen gesagt?«

»Nein. Was soll er schon sagen? Ich will es auch gar nicht wissen.«

»Gut«, erwiderte Wolkow. »Darauf wollen wir trinken.«

Er trank seinen Wodka auf einen Schluck aus und stellte die Flasche fort. »Gib mir noch ein Glas«, sagte Lillian.

»So viele du willst.«

Sie beobachtete ihn. Sie wußte, daß er es hasste, wenn sie trank; aber sie wußte auch, daß er jetzt nicht versuchen würde ihr auszureden, noch weiter zu trinken. Er war zu klug dazu; er kannte ihre Stimmungen. »Noch eins?« fragte er statt dessen. »Die Gläser sind klein.«

»Nein.« Sie stellte das Glas neben sich, ohne getrunken zu haben. »Boris«, sagte sie und zog die Beine auf den Sessel. »Wir verstehen uns zu gut.«

»Wirklich?«

»Ja. Du verstehst mich zu sehr und ich dich, und das ist unser Elend.«

Wolkow lachte. »Besonders bei Föhnwetter.«

»Nicht nur bei Föhnwetter.«

»Oder wenn Fremde angekommen sind.«

»Siehst du«, sagte Lillian. »Du weißt bereits den Grund. Du kannst alles erklären. Ich nichts. Du weißt alles im voraus über mich. Wie müde das macht! Ist das auch der Föhn?«

»Der Föhn und das Frühjahr.«

Lillian schloß die Augen. Sie spürte die drängende, unruhige Luft. »Warum bist du nicht eifersüchtig?« fragte sie.

»Ich bin es ja. Immer.«

Sie öffnete die Augen. »Auf wen? Auf Clerfayt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Das dachte ich mir. Worauf dann?«

Wolkow antwortete nicht. Wozu fragte sie? Und was wußte sie schon davon? Eifersucht begann nicht mit einem Menschen und endete nicht damit. Sie begann mit der Luft, die der geliebte Mensch atmete und endete nie. Nicht einmal mit dem Tode des anderen. »Worauf, Boris?« fragte Lillian. »Doch auf Clerfayt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht auf das, was mit ihm heraufkommt.«

»Was kommt schon herauf?« Lillian streckte sich und schloß aufs neue die Augen. »Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein. Clerfayt fährt in ein paar Tagen wieder hinunter und wird uns vergessen und wir ihn.«

* * *

Sie lag eine Zeitlang still auf ihrem Liegestuhl. Wolkow saß hinter ihr und las. Die Sonne rückte vor und erreichte mit der Kante ihres sich verschiebenden Lichtvierecks ihre Augen, die sich unter den Lidern sofort mit warmem, orangefarbenem und goldenem Licht füllten. »Manchmal möchte ich etwas ganz Unsinniges tun, Boris«, sagte sie. »Etwas, das den gläsernen Ring hier zerschlägt. Mich fallenlassen — irgendwohin.«

»Das möchte jeder.«

»Du auch?«

»Ich auch.«

»Warum tun wir es dann nicht?«

»Es würde nichts ändern. Wir würden den Ring nur noch stärker spüren. Oder ihn zerschlagen, uns zerschneiden an seinen Spitzen und verbluten.«

»Du auch?«

Boris sah auf die schmale Gestalt vor sich. Wie wenig sie von ihm wußte, obschon sie glaubte, ihn zu verstehen!

»Ich habe ihn akzeptiert«, sagte er und wußte, daß es nicht wahr war. »Es ist einfacher, Duscha. Bevor man sich mit zwecklosem Hass dagegen verbraucht, soll man versuchen, ob man nicht damit leben kann.«

Lillian fühlte eine Welle von Müdigkeit kommen. Da waren die Gespräche wieder, in denen man sich wie in Spinnweben verfing. Es stimmte alles, doch was half das?

»Akzeptieren ist resignieren«, murmelte sie nach einer Weile. »Dazu bin ich noch nicht alt genug.«

Warum geht es nicht? dachte sie. Und warum beleidige ich ihn, obschon ich es nicht will? Wozu werfe ich ihm vor, daß er länger hier ist als ich und daß er das Glück hat, anders darüber zu denken als ich? Warum irritiert es mich, daß er so ist wie ein Mann in einem Gefängnis, der Gott dankt, daß man ihn nicht getötet hat — und ich wie einer, der Gott hasst, weil er nicht frei ist?

»Höre nicht auf mich, Boris«, sagte sie. »Ich rede nur so daher. Es ist der Mittag und der Wodka und der Föhn. Und vielleicht ist es doch auch Röntgenpanik — ich will sie nur nicht zugeben. Keine Nachricht hier oben ist schlechte Nachricht.«

Die Glocken der Kirche im Dorf begannen zu läuten. Wolkow stand auf und ließ den Vorhang gegen die Sonne weiter herunter. »Eva Moser wird morgen entlassen«, sagte er. »Gesund.«

»Ich weiß. Sie ist schon zweimal entlassen worden.«