Fandorin verbeugte sich wortlos und starrte die Unbekannte an. Willensstärke und Zerbrechlichkeit, Esprit und Weiblichkeit in einer solchen Verschmelzung bekam man in einem Mädchengesicht nicht oft zu sehen. In gewisser Weise erinnerte die Dame an Wanda, nur war die Mundpartie ohne Spuren von Schärfe und zynischem Spott.
Die nächtliche Besucherin trat dicht vor den jungen Mann, sah ihm in die Augen und fragte mit einer Stimme, die vor Zorn oder zurückgehaltenen Tränen zu beben schien: »Wissen Sie, daß Michail Sobolew ermordet worden ist?«
Fandorin runzelte die Stirn.
»Jawohl, ermordet!« Die Mädchenaugen bekamen einen fiebrigen Glanz. »Und nur wegen dieses verfluchten Portefeuilles!«
SIEBTES KAPITEL,
in welchem viel getrauert wird und Fandorin nur Zeit verliert
Im makellosen, von der grellen Sonne weißglühenden Moskauer Himmel hing schon am frühen Sonntagmorgen ein erbarmungsloser Glockenklang. Und obwohl der Tag heiter zu werden versprach und das Gold zahlloser Zwiebelkuppeln glänzte, daß man blinzeln mußte, war es der auf sanften Hügeln hingebreiteten Stadt in der Seele öd und kalt. Allzu fade, allzu unfroh klangen heute die berühmten Glocken - denn Moskau trauerte im Gedenken an Michail Sobolew, den der Herrgott als den Seinen jüngst zu sich befahl.
Der Verstorbene hatte die meiste Zeit in Sankt Petersburg gelebt und sich in der alten Metropole immer nur besuchsweise aufgehalten, doch Moskau liebte ihn mehr als das kalte, geschäftige Petersburg, liebte ihn hingebungsvoll wie eine Frau, ohne viel Gedanken an die Meriten seines Idols zu verschwenden. Es genügte, daß er ein guter Mensch und heldenhafter Kämpfer war, und am meisten liebten die Moskauer ihren Sobolew, weil sie den echten Russen in ihm sahen, der allen fremden Flausen und Haarspaltereien abhold war.
Darum hingen Lithographien mit dem Konterfei des Weißen Generals - Rauschebart und blankgezogener Säbel! - im Hause beinahe eines jeden Moskauers, gleich ob er niederer Beamter, Kaufmann oder Großbürger war.
So viel Gram hatte die Stadt nicht einmal letzten März bekundet, als die Beisetzung des heimtückisch ermordeten Zaren Alexander stattfand und danach ein ganzes Jahr lang Staatstrauer herrschte, die Straßen also nicht geschmückt, keine Feste veranstaltet, Friseurläden nicht aufgesucht und Komödien nicht gespielt wurden.
Lange bevor sich der Trauerzug quer durch das Stadtzentrum zum Platz Krasnyje Worota in Bewegung setzte, wo in der Dreiheiligenkirche die Totenmesse abgehalten werden sollte, waren Trottoirs, Fenster, Balkone und selbst die Dächer entlang des Teatralny Projesd, der Lubjanka und der Mjasnizkaja von Zuschauern verstopft. Die Jungs hockten auf den Bäumen, die verwegensten erklommen die Fallrohre der Dachrinnen. Längs des gesamten Weges, den der Leichenwagen zurücklegen sollte, bildeten Garnisonstruppen sowie Zöglinge der Alexander- und der Junkerschule ein Ehrenspalier. Am Rjasaner Bahnhof stand der aus fünfzehn Wagen bestehende, mit Flaggen, Georgskreuzen und Eichenlaub geschmückte Sonderzug zur Überführung bereit. Auch wenn Petersburg keine Anstalten machte, von seinem Helden Abschied zu nehmen - Mütterchen Rußland tat es mit einer tiefen Verbeugung, und sein Herz schlug zwischen Moskau und Rjasan, genauer: im Dorf Spasskoje, Ujesd Ranenburg, wo der Weiße General zur letzten Ruhe gebettet werden würde.
Die Prozession dehnte sich über mehr als eine Werst. Allein Ordenskissen waren es gute zwei Dutzend. Den St. Georgsstern 1. Klasse trug der Oberkommandierende des Petersburger Militärbezirks, Infanteriegeneral Ganezki, vor sich her. Und erst die Kränze - welche Flut! Gestiftet von den Händlern des Ochotny Rjad und vom Englischen Klub und von der Moskauer Bürgergilde und von den Rittern des St. Georgsordens und, und, und - man kann sie nicht alle aufzählen. Vor dem Katafalk, einer mit rotem Samt bespannten und von goldenem Baldachin beschirmten Lafette, ritten Herolde mit gesenkten Fackeln einher, ihnen nach der Generalgouverneur und der Kriegsminister als die Ausrichter der Feierlichkeiten. Dem Sarg folgte einsam auf seiner pechschwarzen Araberstute Großfürst Kirill Alexandrowitsch, leiblicher Bruder und persönlicher Berater Seiner Majestät des Zaren. Hinter ihm führten Adjutanten den schneeweißen Bajazette, Sobolews berühmten Achal-Tekkinerhengst, der eine Trauerdecke trug. Daran anschließend marschierte im Stechschritt die Ehrenwache, weitere, etwas bescheidenere Kränze folgten, und dann kamen, barhäuptig einherschreitend, die angesehensten Gäste: Würdenträger, Generäle, Magnaten, die Deputierten der Stadtduma. Es war, alles in allem, ein erhebender Anblick, ganz unvergleichlich.
Am Ende schien sich auch die Junisonne ihrer unangebrachten Holdseligkeit zu schämen und bedeckte sich mit Wolken, der Tag wurde grau, und als der Zug Krasnyje Worota erreicht hatte, wo eine hunderttausendköpfige Menge wogte, schluchzte, Kreuze schlug, da setzte gar ein zaghafter Nieselregen ein. Nun waren Mensch und Natur in ihrer Stimmung vollkommen überein.
Fandorin drängte sich durch die dichte Menge, denn er war auf der Suche nach dem Polizeipräsidenten. In aller Herrgottsfrühe, gleich nach sieben, hatte er im Hause des Generals auf dem Twerskoi vorgesprochen und war doch zu spät gekommen - es hieß, Seine Exzellenz sei bereits auf dem Weg ins »Dusseaux«. Kein Wunder an so einem Tag, bei so viel Verantwortung, die ja doch in erster Linie auf Karatschenzews Schultern lag. Das Pech blieb Fandorin treu. Am Portal des »Dusseaux« erfuhr er von einem Gendarmeriehauptmann, der General sei »gerade vorhin eben aufs Amt galoppiert«. Doch im Kabinett an der Malaja Nikitskaja traf er Karatschenzew auch nicht mehr an - er war schon wieder losgeprescht, um vor der Kathedrale für Ordnung zu sorgen, wo die Massen sich zu erdrücken drohten.
Für eine Lösung des anstehenden, nicht länger aufzuschiebenden Problems hätte freilich auch der Generalgouverneur sorgen können. Und den mußte man nicht suchen -dort vorn ritt er auf seinem Apfelschimmel, von allen Seiten sichtbar, in eherner Gardekavalleristenhaltung dem Trauerzug voran. Da war kein Herankommen.
In der Dreiheiligenkirche, in die Fandorin nur mit Hilfe des justament auftauchenden fürstlichen Sekretärs gelangte, sah die Sache nicht günstiger aus. Zwar glückte es Fandorin, die Gangart der Ninja pflegend, sich bis kurz vor den Sarg nach vorn zu schlängeln, doch hier stieß er auf eine undurchdringliche Wand von Rücken. Feierlich, in Wichs und Pomade stand Fürst Wladimir, eine Greisenträne im Augenwinkel, neben Herzog Lichtenburgski. Ein Wort mit ihm zu wechseln schien ganz unmöglich - und selbst wenn es dazu gekommen wäre, hätte der Fürst schwerlich einen Sinn für die Dringlichkeit der Sache zu entwickeln vermocht.
In wütender Ohnmacht mußte Fandorin die ergreifende Rede von Vater Ambrosius, die unerforschlichen Ratschlüsse des Herrn betreffend, über sich ergehen lassen. Ein kleiner Kadett, leichenfahl vor Aufregung, deklamierte mit heller Stimme ein langes, gereimtes Epitaph, das mit den Worten schloß:
Ihn fürchtet' noch der ärgste Feind, So wie der Hase furcht'-den Aar. Und sinkt er nun ins Grab hinab -Sein Geist wohnt in uns immerdar!
Ringsum flössen die Tränen, nicht zum ersten und nicht zum zweiten Mal. Das Hervorkramen der Taschentücher sorgte für Unruhe. Und weiter ging die Zeremonie in ihrer dem Anlaß wohlgebührenden Betulichkeit. Darüber verstrich die Zeit.
In der zurückliegenden Nacht hatte Fandorin von Umständen erfahren, die den Fall erneut in gänzlich anderem Licht erscheinen ließen. Die späte Besucherin, die der in europäische Maßstäbe uneingeweihte Diener als nicht sehr jung und nicht sehr schön eingestuft hatte, während sein der Romantik zuneigender Herr sie als geheimnisvoll und wunderschön ansah, hieß Jekaterina Golowina und war Lehrerin am Minsker Mädchengymnasium. Ihrer zarten Konstitution und dem Überschwang der Gefühle zum Trotz äußerte sich Frau Golowina in für eine Gymnasiallehrerin unüblicher Direktheit und Schärfe - falls sie nicht von Natur aus so war, hatten Leid und Verbitterung sie so weit gebracht.