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Auffällig war: Der Dieb mußte gewußt haben, daß Sobolew sich in dieser Nacht nicht in seinem Zimmer aufhalten würde, auch nicht plötzlich auftauchen konnte, denn der Tresor war umständlich und in aller Ruhe geöffnet worden. Am bemerkenswertesten aber war, daß der ausgeraubte Tresor nicht etwa offengelassen, sondern akkurat wieder verschlossen worden war, was bekanntlich viel mehr Zeit und Fingerspitzengefühl verlangte, als ihn zu öffnen. Wozu hatte einer dieses Risiko in Kauf genommen, wenn der Verlust des Portefeuille von seinem Besitzer doch sowieso entdeckt werden würde? Und warum kletterte er durch die Lüftungsklappe wieder hinaus, wenn er durch das Fenster gekonnt hätte? Hieraus galt es Schlüsse zu ziehen.

Fandorin stand auf und begann durch das Zimmer zu spazieren.

Der Räuber hatte gewußt, daß Sobolew nicht mehr wiederkommen würde. Jedenfalls nicht lebend. Punkt eins.

Er hatte zudem gewußt, daß außer dem General keiner das Portefeuille vermissen würde, da außer ihm keiner von der Million wußte. Punkt zwei.

All dies ließ darauf schließen, daß der Räuber geradezu phantastisch gut informiert war. Punkt drei.

Ja, und Punkt vier verstand sich von selbst: Der Dieb mußte gefunden werden. Schon weil er möglicherweise auch der Mörder war. Eine Million ist ein ernsthafter Stimulus.

Leicht gesagt. Wie fand man ihn?

Fandorin setzte sich an den Tisch und zog einen Stapel Schreibpapier zu sich heran.

»Tuschkasten und Pinsel?« Masa, der bis eben noch reglos an der Wand gestanden und sogar leiser als gewöhnlich geschnauft hatte, um seinen Herrn nicht bei der Sinnfindung längs der Großen Spirale zu behindern, auf die alle maßgebenden Ursachen und Wirkungen, große ebenso wie kleine, aufgefädelt sind - dieser Masa war nun lautlos herangeflogen und stand dienstbereit. Fandorin nickte und setzte seine Gedankengänge fort.

Man durfte keine Zeit verlieren. Jemand war gestern nacht um eine ganze Million reicher geworden. Möglicherweise war der Dieb mit seiner Beute schon über alle Berge. Doch wenn er gescheit war - und allem Anschein nach hatte man es mit einem Pfiffikus zu tun -, so mied er alle schroffen Winkelzüge und war erst einmal untergetaucht.

Wer kannte die Zunft der Tresorknacker wohl am besten? Seine Exzellenz Jewgeni Karatschenzew. Sollte er ihm gleich einen Besuch abstatten? Doch der General schlief gewiß, sammelte Kräfte für einen arbeitsreichen Tag. Im Kriminalamt würde zu dieser frühen Stunde auch niemand anzutreffen sein. Sollte er also ausharren, bis dort die Dienstzeit begann?

Aber hatten die denn überhaupt eine Kartei? In früheren Zeiten, als Fandorin noch für diese Behörde arbeitete, war an derlei Finessen nicht zu denken gewesen. Nein, bis zum Vormittag zu warten lohnte nicht.

Inzwischen hatte Masa flink ein Stäbchen Trockentusche in einem quadratischen Lackschälchen pulverisiert, ein paar Tropfen Wasser beigegeben, den Pinsel befeuchtet und Fandorin ehrerbietig gereicht, worauf er diskret hinter seinem Herrn Aufstellung nahm, um ihn nicht von seiner kalligraphischen Übung abzulenken.

Langsam hob Fandorin den Pinsel und zögerte eine Sekunde, ehe er mit Sorgfalt eine Hieroglyphe auf das Papier zeichnete: »Geduld«. Dabei mühte er sich, an nichts anderes zu denken, damit das Schriftzeichen seine ideale Form bekam. Es ging schief: gezwungene Linien, disharmonierende Elemente, zu alledem noch ein Klecks. Das geknüllte Papier flog auf den Fußboden. Es folgte ein zweiter, ein dritter, ein vierter Versuch. Immer zügiger, immer sicherer fuhr der Pinsel über das Papier. Beim achtzehnten Versuch geriet die Hieroglyphe vollkommen tadellos.

»Da, heb das auf!« Fandorin reichte Masa das Kunstwerk.

Der betrachtete es ausgiebig und mit beifälligem Schmatzen, sodann verstaute er das Blatt in einer speziellen Mappe aus Reispapier.

Erast Fandorin aber wußte nun, was zu tun war. Er hatte eine einfache, richtige Entscheidung getroffen; durch sie war Ruhe in ihn eingekehrt. Richtige Entscheidungen haben es an sich, einfach zu sein. Die Regel lautete: Der vornehme Mann geht nicht an ein ungewisses Werk, ohne Weisheit bei einem Lehrer eingeholt zu haben.

»Rüste dich, Masa«, sagte Fandorin. »Wir fahren meinen alten Lehrer besuchen.«

Xaveri Feoflaktowitsch Gruschin, einstmals leitender Ermittlungsbeamter beim Moskauer Kriminalamt, war mehr wert als jede Kartei. Unter seiner nachsichtigen väterlichen Obhut hatte der junge Fandorin seine Detektivlaufbahn begonnen. Zwar währte die gemeinsame Dienstzeit nur kurz, doch gelernt hatte er viel bei ihm. Der alte Gruschin, längst schon im Ruhestand, kannte das kriminelle Moskau wie seine Westentasche, hatte es in den vielen Jahren gründlichst studiert. Manchmal war der zwanzigjährige Fandorin an seiner Seite durch die unsicheren Reviere geschlendert, die Chitrowka beispielsweise oder die Gratschowka, und aus dem Staunen nicht herausgekommen. Die abgefeimtesten Räu bervisagen gaben sich die Ehre, zerlumpte Gestalten, schmierige Gockel mit fliehendem Blick - und alle zogen sie vor dem Beamten den Hut, verbeugten sich und grüßten. Mit dem einen hatte Gruschin etwas zu wispern, dem nächsten gab er einen arglosen Klaps hinters Ohr, einem dritten schüttelte er die Hand. Und kaum waren sie ein Stück weitergegangen, klärte der Beamte seinen grünschnäbligen Schriftführer auf: »Das war Tischka Rauhbein, Bahnhofsdieb. Darauf spezialisiert, Koffer von fahrenden Droschken zu ziehen. Und der da ist Gulja, ein erstklassiger Handnepper.« -»Handnepper?« fragte Fandorin schüchtern nach, während er den äußerlich ganz passablen, mit Stöckchen und Melone ausstaffierten Mann näher betrachtete. »Na, er verkauft Goldschmuck von der Hand und dreht den Leuten falsche Ringe an, aber äußerst fingerfertig. Den Goldring zeigt er vor und schiebt dir dann doch vergoldetes Kupfer unter. Ein reputierliches Gewerbe, das viel Übung erfordert.« Oder Gruschin blieb vor den »Spielern« stehen - solchen, die vermittels dreier Fingerhüte einen Gimpel schröpfen - und gab Erläuterungen: »Haben Sie gesehen, wie das Jungchen, Stepka heißt er, die Brotkugel unter den linken Hut gesteckt hat? Trauen Sie ja Ihren Augen nicht! Die Kugel klebt ihm am Fingernagel und bleibt darum niemals unterm Hut.« -»Warum verhaften wir die denn nicht, diese Gauner!« rief Fandorin hitzig, was Gruschin mit einem Grinsen quittierte. »Ach, jeder muß doch sein Auskommen haben, Herr Kollege. Ich verlange von ihnen nur eines: daß sie soviel Anstand haben, ihr Opfer nicht bis aufs letzte Hemd auszuziehen.«

In Gaunerkreisen genoß der Kriminalpolizist besonderes Ansehen - weil er Gerechtigkeit an den Tag legte, weil er jedem Hühnchen sein Körnchen gönnte, vor allem aber, weil er uneigennützig war. Nie nahm Xaveri Gruschin Schmiergeld, wie andere Polizisten das taten, weshalb er auch keine Reichtümer anhäufte und sich, als er schließlich in Rente ging, in einem bescheidenen Vorstadthäuschen mit Gemüsegarten niederließ. In der Zeit, da Fandorin diplomatischen Dienst im fernen Japan leistete, hatte sein alter Vorgesetzter ihm hin und wieder ein paar Zeilen geschrieben, und als jetzt die Versetzung nach Moskau erfolgte, hatte Fandorin sich unbedingt vorgenommen, ihn zu besuchen, sobald er sich nur ein wenig eingelebt hatte. Nun aber mußte es gleich sein. Während die Mietkutsche über die Moskworezki-Brücke holperte, die im ersten schütteren Morgenlicht lag, fragte Masa besorgt: »Herr, ist Glusin-Sensei bloß ein Sensei oder ein Onjin?«

Und mit mißbilligendem Kopfschütteln präzisierte er seine Bedenken: »Für eine ehrbare Visite bei einem Sensei ist es noch zu früh. Bei einem Onjin erst recht.«

Sensei war ein einfacher Lehrer. Onjin war unvergleichlich viel mehr: ein Lehrer, für den man eine tiefe und aufrichtige Dankbarkeit empfand.