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»Ich denke, er ist ein Onjin«, entschied Fandorin, und mit einem Blick auf den roten Lichtstreif, der sich den halben Horizont entlangzog, meinte er leichthin: »Wir kommen ein bißchen früh, das gebe ich zu. Aber Gruschin kann bestimmt sowieso nicht schlafen.« Xaveri Gruschin schlief tatsächlich nicht. Er saß am Fenster eines Häuschens, das - klein zwar, aber sein! - in dem Labyrinth von Straßen und Gassen zwischen der Großen und der Kleinen Ordynka lag. Gruschin war am Sinnen: über die Eigentümlichkeit des Schlafes nämlich. Daß der Mensch im Alterwerden weniger schläft als in der Jugend, ist einerseits vernünftig und in Ordnung. Warum soll er unnötig seine Zeit vergeuden - der ewige Schlaf ist nicht mehr fern. Andererseits hat man, wenn man jung ist, viel weniger Zeit. Als junger Mensch rennt man herum von früh bis in die Nacht, läuft sich die Hacken ab, und ach, bekäme man noch das eine oder andere Stündchen geschenkt, wären alle Dinge erledigt - und doch verschläft man acht Stunden in den Kissen. Um die Zeit tut es einem manchmal furchtbar leid, doch was soll man machen - die Natur fordert das Ihre. Hingegen jetzt ... Jetzt genügt es, wenn man ein, zwei Stunden in der Laube vor sich hin döst, um dann wieder die ganze Nacht kein Auge zuzutun und nicht zu wissen, was mit sich anfangen. Es herrschen ja nun andere Zeiten, es weht ein anderer Wind. Der alte Gaul ist abgeschrieben und soll seine alten Tage in der warmen Box verbringen. Darüber muß man sich nicht beschweren, es ist gut so. Nur leider langweilig. Die Frau, Gott hab sie selig, ist schon drei Jahre unter der Erde. Saschenka, das einzige Töchterchen, hatte nichts Eiligeres zu tun, als einen windigen Unterleutnant zur See zu heiraten und mit ihm ans Ende der Welt zu ziehen, nach Wladiwostok. Die Köchin Nastassja, gut, die bekocht ihn und wäscht die Wäsche, aber ein bißchen reden möchte man ja auch. Und worüber sollte er mit dieser Trine reden? Über die Preise für Petroleum und Sonnenblumenkerne?

Dabei könnte Gruschin sich noch nützlich machen. Und ob! Mit den Kräften ist er längst nicht am Ende, das Hirn ist gottlob noch nicht eingerostet. Und, geben Sie es doch zu, Herr Polizeipräsident, Ihr Blatt ist ausgereizt. Wie viele Bösewichter haben Sie denn dingfest gemacht mit Ihrer dämlichen Bertillonage? Heutzutage hat man Angst, durch Moskau zu laufen. Im Nu ist die Geldbörse weg, und zu vorgerückter Stunde kann man leicht eins mit dem Bleischläger über die Rübe kriegen.

Das stille Wortgefecht mit seinem früheren Chef ließ Xaveri Gruschin für gewöhnlich in Schwermut verfallen. Der Polizist im Ruhestand machte sich nichts vor: Das Amt kam ohne ihn mehr oder weniger über die Runden, er hingegen langweilte sich ohne das Amt sehr. Ach, er entsann sich gut, wie es war, wenn er morgens zu einem Ortstermin fuhr. In ihm ein einziges Klingen, so als wäre eine Feder bis zum Äußersten gespannt. Nach dem Kaffee und dem ersten Pfeifchen war der Kopf klar, die Gedanken ordneten sich wie von

selbst zu einer klaren Linie, einem Plan. Das, so wußte er jetzt, war das Glück, das war das wahre Leben. Nein, er hatte weiß Gott nicht wenig gelebt und erlebt. Aber es dürfte ruhig noch etwas mehr sein! dachte Gruschin seufzend und schaute mißmutig auf die hinter den Dächern hervortauchende Sonne - denn wieder stand ein langer, öder Tag bevor.

Und der Herrgott hatte ein Einsehen. Die weitsichtigen Augen zusammenkneifend, spähte Gruschin die ungepflasterte Straße hinab - da schien von der Pjatnizkaja her ein Gespann heraufgefegt zu kommen. Zwei Insassen: einer mit Schlips, der andere, kleinere in etwas Grünes gewandet. Wer mochte das sein, zu so früher Stunde?

Nach den obligaten Umarmungen, Küssen und Höflichkeitsfragen, auf die Gruschin äußerst weitschweifig, Fandorin eher knapp antwortete, kam man zur Sache. Fandorin erging sich nicht in Einzelheiten, über Sobolew kein Wort - er schilderte nur das, was für die Beantwortung seiner Fragen wichtig war.

In einem Hotel ist ein Tresor ausgeraubt worden. Zur Handschrift läßt sich sagen, daß das Schloß nicht sehr akkurat geöffnet wurde - den Kratzern nach zu urteilen, hat sich der Dieb damit ordentlich geplagt. Besonderes Merk 67

maclass="underline" Wachsspuren im Schlüsselloch. Auffällig an dem Einbrecher ist der überaus subtile Körperbau: Er kroch durch eine Lüftungsklappe von sieben mal vierzehn Zoll. Dabei trug er Stiefel oder Halbstiefel mit einem Kreuz- und Sternenmuster auf der Sohle, selbige mutmaßlich neun Zoll lang und gerade mal drei breit... Fandorin hatte die Liste der Gegebenheiten noch nicht bis zu Ende abgearbeitet, da wurde er von Gruschin unterbrochen. »Stiefel.«

Bestürzt schielte der junge Kollegienassessor nach dem in der Ecke vor sich hin schlummernden Masa. Waren sie vielleicht umsonst hergekommen? War sein alter Onjin doch nicht mehr recht bei Trost?

»Was?«

»Stiefel«, wiederholte der alte Kriminalist. »Keine Halbstiefel. Chromstiefel, blitzblank geputzt. Andere trägt er nicht.«

Vor Erregung wagte Fandorin kaum zu atmen. Behutsam, wie um sein Gegenüber nicht zu erschrecken, fragte er: »Ist das Subjekt Ihnen etwa bekannt?«

»Bestens bekannt!« Zufrieden strahlte Gruschin über sein ganzes weiches, runzliges Gesicht, an dem viel mehr Haut war, als der Schädel benötigt hätte. »Das war der Kleine Mischa, klarer Fall. Seltsam nur, daß er sich an dem Schloß so lange aufgehalten hat, einen Hoteltresor zu knacken ist für ihn normalerweise ein Kinderspiel. Von den Geldschrankspezialisten kommt nur er durch die Lüftungsklappe, und seine Dietriche sind immer mit Wachs eingerieben - er hat ein sehr empfindliches Gehör und kann jegliches Quietschen nicht ausstehen.«

»Der K-... Kleine Mischa? Wer ist denn das?«

»Den kennen Sie nicht?« Xaverin Gruschin schnürte seinen Tabakbeutel auf und stopfte sich gemächlich eine Pfeife. »Er ist der König der Branche in ganz Moskau. Ein erstklassiger Tresorspezialist, der aber auch blutige Geschäfte nicht verachtet. Außerdem Zuhälter, Hehler für jedwedes Diebesgut und Kopf einer ganzen Bande. Ein Breitbandkünstler, der Benvenuto Cellini der Verbrecherwelt. Dabei ein Winzling - kaum zwei Arschin und zwei Werschok groß. Schmächtig obendrein. Immer schick angezogen. Schlau, wendig und von bestialischer Grausamkeit. Eine Person, die in der Chitrowka jeder kennt.«

»Und warum ist so eine Berühmtheit nicht längst hinter Schloß und Riegel?« wunderte sich Fandorin.

»Ha!« machte der alte Kriminalpolizist und sog erst einmal genüßlich an seiner Pfeife - der erste Zug an diesem Morgen, der wie immer der süßeste war.

»Den mußt du erst mal kriegen. Mir ist es nicht gelungen, und denen, die heute am Ruder sind, wird es gleich gar nicht gelingen. Das Aas hat seine Leutchen bei der Polizei - hundertprozentig. Wie oft ich versucht habe, ihn in die Finger zu kriegen! Keine Chance!« Gruschin winkte ab. »Er entschlüpft dir bei jeder Razzia. Seine Wohltäter warnen ihn. Alle haben sie Schiß vor ihm, und wie! Mischas Bande, das sind Mörder und Totschläger durch die Bank. Du weißt, ich hab bei den Leuten in der Chitrowka einen Stein im Brett, aber wenn ich ihnen mit dem Kleinen Mischa komme, sind sie verstockt, da könnte ich sie noch so in die Zange nehmen. Was ja gar nicht meine Art ist, höchstens, daß ich ihnen mal eine runterhaue. Aber wenn Mischa sie anfaßte, dann nicht mit der Zange, mit glühenden Eisen würde der sie in Stücke reißen. Einmal, vor vier Jahren vielleicht, da war ich knapp davor, ihn zu kriegen. Ein Mädel aus seinem Stall hatte ich bearbeitet, ein gutes Mädel, bei der war Hopfen und Malz

noch nicht verloren. Und kurz vor dem Zugriff, wie ich mir den Mischa aus ihrem Banditennest angeln wollte, haben sie uns einen Sack vors Amt geschmissen. Drinnen steckte meine Informantin - in zwölf Scheiben geschnitten ... Ach, mein lieber Fandorin, ich könnte Ihnen von seinen Künsten Geschichten erzählen, aber wenn ich es recht sehe, haben Sie gar keine Zeit. Denn sonst wären Sie ja nicht früh um halb sechs hier reingeschneit.«