Stolz auf seine Kombinationsgabe, kniff Gruschin schelmisch ein Auge zu.
»Ich brauche diesen Kleinen Mischa unbedingt«, sagte Fandorin mit gerunzelter Stirn. »Es klingt vielleicht unglaublich, aber er ist irgendwie verwickelt in ... nein, ich glaube, ich darf das nicht... Jedenfalls geht es um eine hochbedeutende Staatsangelegenheit von noch dazu äußerster D-... Dringlichkeit, soviel kann ich Ihnen versichern. Können wir nicht einfach hinfahren und ihn uns schnappen, Ihren Benvenuto?«
Gruschin hob die Hände.
»Sonst noch Wünsche! Ich kenne in der Chitrowka jedes Mauseloch, aber wo der Kleine Mischa sein Domizil hat, weiß ich nicht. Hierzu brauchten wir eine Großrazzia. Aber die müßte von ganz oben kommen, ohne daß die Reviere und Hauptämter davon Wind bekämen - sonst machen die uns einen Strich durch die Rechnung. Die ganze Chitrowka abriegeln, und zwar ordentlich, nicht bloß husch-husch. Wenn wir schon nicht Mischa erwischen, dann vielleicht wen aus seiner Bande oder aus seinem Harem. Aber dazu brauchten wir mindestens fünfhundert Mann. Und die dürften bis zum letzten Moment nicht wissen, was auf sie zukommt. Da beißt die Maus keinen Faden ab.«
Darum also streunte Erast Fandorin vom Morgen dieses Tages an durch die trauernde Stadt, darum fegte er hin und her zwischen Twerskoi und Krasnyje Worota, auf der Suche nach den Vorgesetzten »von ganz oben«. Schade um die kostbare Zeit! Mit der Riesensumme Geld konnte der Kleine Mischa längst sonstwohin abgeschwirrt sein, ins heitere Odessa vielleicht, oder nach Rostow oder Warschau. Das Reich war groß genug, ein Schlitzohr wie er konnte überall seinen Spaß haben. Seit vorgestern nacht saß Mischa auf einer Beute, von der er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Wenn er klug war, kroch er still irgendwo unter und wartete ein Weilchen ab, ob die Sache Wellen schlug oder nicht. Mischa war ein gerissener Bursche, der wußte, wie man es macht. Aber soviel Geld mußte sein Banditenherz in Wallung bringen. Lange würde er es nicht aushalten, dann suchte er das Weite. Wenn er nicht längst auf und davon war. Ach, wie ungelegen dieses Begräbnis kam!
Eben hatte es einen Moment gegeben - als nämlich Großfürst Kirill zum Sarg schritt und in der Kirche eine ehrfürchtige Stille eintrat -, da hatte Fandorin einen Blick des Generalgouverneurs aufgefangen und inbrünstig genickt, um die Aufmerksamkeit Seiner Durchlaucht zu erregen, doch der Fürst nickte nur zurück, um sodann den gramvollen Blick mit einem schweren Seufzer hinauf zu dem im Kerzenlicht strahlenden Kronleuchter zu wenden. Dafür wurde der wild gestikulierende Kollegienassessor von Seiner Hoheit, dem Herzog Lichtenburgski wahrgenommen, der etwas verloren inmitten all des byzantinischen Prunks herumstand, seine Kreuze anders schlug als alle, nämlich von links nach rechts, und sich überhaupt in seiner Haut nicht wohl zu fühlen schien. Er sah ein Weilchen zu, wie der junge Beamte seine verzweifelten Zeichen gab, hob eine Braue und tippte nach kurzem Überlegen Churtinski an die Schulter, dessen geleckter Nacken die Epauletten des Gouverneurs überragte. Und Churtinski zeigte sich verständiger als sein Nebenmann: Sofort hatte er begriffen, daß etwas Extraordinäres vorgefallen sein mußte, und deutete mit dem Kinn in die Richtung eines Seitenausgangs: Kommen Sie dort hinüber, hieß das, da können wir reden.
Wieder glitt Fandorin durch die gedrängten Reihen, nur diesmal in anderer Richtung - nicht zur Mitte hin, sondern quer, was schneller ging. Und die ganze Zeit über, während er sich durch die Trauergemeinde schob, stand die tiefe, mächtige Stimme des Großfürsten im gewölbten Kirchenraum, der man allseits mit besonderer Aufmerksamkeit lauschte. Denn Kirill Alexandrowitsch war mehr als nur der Lieblingsbruder des Zaren. Vielen der Anwesenden war sehr wohl klar, daß dieser schmucke, prächtige General mit den etwas bübischen, habichtartigen Gesichtszügen nicht bloß Oberbefehlshaber der Garde war, sondern recht eigentlich der Herrscher im Imperium. Im Kriegsministerium hielt er das Heft ebenso in der Hand wie in der obersten Polizeibehörde und, noch wesentlicher, beim Sondergendarmeriekorps. Das Wichtigste aber war, daß der Zar, wie man hörte, keinen einzigen Entschluß von irgendwelcher Tragweite faßte, ohne ihn zuvor mit dem Bruder erörtert zu haben. Dem Seitenausgang zustrebend, hörte Fandorin sich an, was der Großfürst zu sagen hatte. Die Natur hat Rußland einen bösen Streich gespielt! dachte er dabei: Hätte sie den einen Bruder zwei Jahre früher auf die Welt kommen lassen und den anderen zwei Jahre später, so wäre nicht der zögerliche, schlaffe, griesgrämige Alexander zum unumschränkten Herrscher über ganz Rußland geworden, sondern der kluge, weitsichtige und entschlossene Kirill. Ach, gewiß hätte das 69
träge russische Leben einen sehr viel anderen Lauf genommen! Wie glänzend hätte das Reich in der Welt dastehen können ! Doch der Mutter Natur war schwer etwas anzukreiden. Wenn überhaupt, dann mußte man der Vorsehung die Schuld geben. Und weil die nichts von allein und ohne höheres Geheiß bestimmte, so sollte es wohl nicht sein, daß das Imperium nach den Maßgaben eines neuen Peter Auftrieb bekam. Der Herrgott hatte für das Dritte Rom offenbar ein anderes Schicksal ausersehen. Blieb zu hoffen, daß es ein lichtes, freundliches war ... Bei diesem Gedanken angelangt, bekreuzigte sich Fandorin, was bei ihm extrem selten vorkam, aber hier nicht weiter auffiel, denn alle ringsum taten es in einem fort. Vielleicht ging ihnen dasselbe durch den Kopf wie ihm?
Großartig, wie Kirill sprach: vornehm, doch überhaupt nicht förmlich. Seine Worte hatten Gewicht.
»Manch einer beklagt, daß dieser tapfere Held, die Hoffnung der russischen Nation, so plötzlich und - wozu darum herumreden - auf so törichte Weise von uns ging. Einer, dem man den Beinamen Achilles verlieh für sein legendäres Glück im Kampf, das ihn viele Male vor dem sicheren Tode gerettet hatte, ist nun nicht auf dem Feld der Ehre gefallen, nein, er starb einen stillen und äußerst zivilen Tod. Aber - stimmt denn das?«
Kirills Stimme tönte in antikem, bronzenem Glanz.
»Sobolew hat es das Herz zerrissen, weil dieses zuvor, in langen Jahren der Aufopferung für das Vaterland verzehrt worden, weil es geschwächt war von mannigfachen Wunden, die ihm unsere Feinde im Kampf zufügten. Nicht Achilles sollte er heißen, nein! Denn jener Achilles war, vom Wasser des Styx zuverlässig gefeit, durch Pfeil und Schwert nicht zu verwunden, und bis zum letzten Tag seines Lebens ward kein 70
Tropfen seines Blutes vergossen. Michail Sobolew hingegen trug am Leibe die Narben von vierzehn Verwundungen, deren jede die Stunde seines Todes näher rücken ließ. Nein, nicht der Glückspilz Achilles ist ein würdiger Ahne unseres Sobolew, sondern der edle Hektor - ein einfacher Sterblicher, der, Seite an Seite mit seinen Kriegern, sein Leben aufs Spiel setzte!«
Das Ende der emphatischen Rede bekam Fandorin nicht mehr mit, denn in diesem Moment hatte er endlich die ersehnte Tür erreicht, wo der Geheimabteilungsleiter der Gouverneurskanzlei schon auf ihn wartete.
»Na, was gibt's?« fragte der Hofrat. Die Falten auf seiner bleichen, hohen Stirn zuckten, während er Fandorin ein Stück zur Seite zog, weg von fremden Ohren.
Wie gewohnt, in mathematischer Klarheit und Kürze, legte Fandorin dar, worum es ging, und endete mit den Worten: »Die Großrazzia müßte umgehend erfolgen, spätestens heute Nacht - Punkt sechs.«
Churtinski hörte konzentriert zu. An zwei Stellen ächzte er überrascht und lockerte gegen Ende der Ausführungen sogar den steifen Kragen.
»Was Sie da erzählen, Fandorin, macht mich ganz fassungslos«, sagte er dumpf. »Das ist noch ärger als die Spionagegeschichte. Der Held von Plewna, ermordet aus schnöder Geldgier - es wäre eine Schande vor der ganzen Welt. Wobei eine Million natürlich ein erkleckliches Sümmchen ist.«
Pjotr Churtinski knackte mit den Fingern, während er hin und her zu überlegen schien. »Was tun, mein Gott, was tun? Den Fürsten Dolgorukoi zu behelligen wäre sinnlos - der ist heute nicht in der Verfassung dafür. Und Karatschenzew kann auch nicht helfen 70