Direkt vor sich sah sie eine niedrige Tür. Sie packte ihren Dolch und schob die Tür langsam auf.
Mehl rieselte in einer hölzernen Rinne von der Decke herab in einen quadratischen hölzernen Behälter neben ihr auf dem Boden. In einer Ecke waren Säcke mit Mehl zu einem hohen Stapel aufgeschichtet. Die Luft war dunstig vor gelbem Staub. Staub bedeckte die Wände, alle Oberflächen und die Leiter in einer Ecke, die ins Obergeschoß führte. Sie erinnerte sich, daß Chris ihr gesagt hatte, dieser Staub sei explosiv und eine einzige Flamme könne das ganze
Gebäude in die Luft jagen. Und tatsächlich sah sie nirgendwo eine Kerze und auch keine Kerzenhalter an den Wänden. Nirgendwo offenes Feuer.
Vorsichtig schlich sie auf die Leiter zu. Erst als sie dort war, sah sie die zwei Männer, die laut schnarchend, mit leeren Weinflaschen zu ihren Füßen, auf den Säcken lagen. Keiner von beiden gab irgendein Zeichen des Aufwachens von sich. Sie stieg die Leiter hoch.
Sie kam an einem rotierenden Mühlstein aus Granit vorbei, der sich laut knirschend gegen einen darunterliegenden drehte. Das Getreide rieselte durch eine Art Trichter in ein Loch in der Mitte des oberen Steins. Das Mehl kam an den Seiten heraus und flöß durch ein Loch im Boden in die Rinne, die ins Erdgeschoß führte.
In der Ecke des Raums sah sie Marek, der über der Leiche eines auf dem Boden liegenden Soldaten kauerte. Er hielt sich den Finger an die Lippen und deutete zu der Tür auf der rechten Seite. Kate hörte Stimmen: die Soldaten im Wachturm. Leise zog Marek die Leiter hoch und klemmte sie vor die Tür, um sie zu blockieren. Gemeinsam nahmen sie dem Soldaten sein Breitschwert, den Bogen und den Köcher mit Pfeilen ab. Die Leiche war schwer, und es war überraschend schwierig, ihm die Waffen abzunehmen. Es schien ewig zu dauern. Kate sah sich das Gesicht des Mannes an — er hatte einen Zwei-Tage-Bart und ein Geschwür auf den Lippen. Seine Augen waren braun und starrten blicklos.
Sie schrak hoch, als der Mann plötzlich die Hand hob, aber sie war bloß mit ihrem feuchten Ärmel an seiner Armschiene hän-gengeblieben. Sie zog den Ärmel zurück, und sein Arm plumpste zu Boden. Marek nahm das Breitschwert des Mannes und warf Kate den Bogen und die Pfeile zu.
An einer Reihe Haken an der Wand hingen weiße Mönchskutten. Marek zog sich eine über und gab ihr eine zweite.
Jetzt deutete er nach links, zu der Rampe, die in das zweite Gebäude führte. Zwei Soldaten in Kastanienbraun und Grau standen auf der Rampe und versperrten ihnen den Weg.
Marek sah sich um, fand einen kräftigen Stock, der zum Kühren des Mahlguts verwendet wurde, und gab ihn Kate. In der Ecke ent-deckte er einige Weinflaschen. Er nahm zwei, öffnete die Tür, sagte etwas auf provenzalisch zu den Soldaten und schwenkte die Weinflaschen. Die Soldaten kamen sofort herbeigelaufen. Marek schob Kate neben die Tür und sagte nur ein Wort: »Fest.« Der erste Soldat kam herein, dicht dahinter der zweite. Sie holte aus und schlug ihm den Stock mit solcher Kraft auf den Kopf, daß sie überzeugt davon war, sie habe ihm den Schädel gebrochen. Aber das hatte sie nicht; der Mann fiel um, richtete sich aber sofort wieder auf. Sie schlug ihn noch zweimal, und schließlich fiel er aufs Gesicht und rührte sich nicht mehr. Marek hatte unterdessen die Weinflasche auf dem Kopf des anderen Soldaten zerbrochen, und jetzt trat er ihn immer wieder in den Magen. Der Mann wehrte sich, er hob die Arme, um sich zu schützen, bis Kate auch ihm den Knüppel auf den Kopf schlug. Dann rührte er sich nicht mehr.
Marek nickte, versteckte sein Breitschwert unter der Kutte und ging, den Kopf wie ein Mönch leicht gesenkt, die Rampe hinunter. Kate folgte ihm.
Sie wagte es nicht, zu den Soldaten auf den Wachtürmen hochzusehen. Den Köcher hatte sie unter ihrer Kutte versteckt, aber den Bogen rnußte sie außen tragen, so daß jeder ihn sehen konnte. Sie wußte nicht, ob jemand sie bemerkt hatte. Sie kamen zu dem zweiten Gebäude, und Marek blieb vor der Tür stehen. Sie horchte, hörte aber nichts außer einem lauten, monotonen Schlagen und dem Rauschen des Flusses. Marek öffnete die Tür.
Hustend und spuckend trieb Chris auf dem bewegten Fluß. Die Strömung war zwar langsamer geworden, aber er war bereits hundert Meter von der Mühle entfernt. Auf beiden Ufern des Flusses standen Arnauts Männer herum, sie rechneten offensichtlich mit dem baldigen Befehl zum Angriff auf die Brücke. Eine große Anzahl Pferde wartete, gehalten von Knappen, etwas abseits.
Die von der Wasseroberfläche reflektierten Strahlen der Sonne stachen Arnauts Männer in die Augen. Chris sah, wie sie die Augen zusammenkniffen und sich vom Fluß abwandten. Das grelle Funkeln war vermutlich der Grund, warum sie ihn nicht gesehen hatten, erkannte er.
Ohne zu spritzen oder die Anne aus dem Wasser zu heben, schaffte er es ans Nordufer der Dordogne und legte sich unter die überhangenden Büsche am Wasserrand. Hier würde ihn niemand sehen. Er konnte kurz Atem holen. Und er müßte auf dieser Seite des Flusses — der französischen Seite — sein, wenn er Andre und Kate wiedertreffen wollte.
Das hieß, falls sie es schafften, lebend aus der Mühle herauszukommen. Chris wußte nicht, wie ihre Chancen standen. In der Mühle wimmelte es von Soldaten.
Und dann fiel ihm ein, daß Marek noch immer den Keramikmarker hatte. Wenn Marek starb oder verschwand, würden sie nie mehr nach Hause kommen. Aber das schaffen wir wahrscheinlich sowieso nicht, dachte er.
Etwas stieß gegen seinen Hinterkopf. Als er sich umdrehte, sah er eine vom Faulgas geblähte Ratte auf dem Wasser treiben. Vor Ekel wäre er am liebsten sofort aus dem Wasser gesprungen. Doch erst sah er sich um. Wo er sich jetzt befand, waren keine Soldaten. Sie standen etwa zwölf Meter entfernt im Schatten einer Eiche. Er stieg aus dem Wasser und ließ sich im Unterholz auf die Erde sinken. Die Sonne schien warm auf seinen Körper. Er hörte die Soldaten lachen und scherzen und wußte, daß er sich einen geschützteren Platz suchen sollte. Wo er jetzt lag, zwischen niederen Büschen dicht am Ufer, würde ihn jeder, der den Pfad am Fluß entlangging, sehen. Aber während er sich langsam aufwärmte, spürte er auch, daß die Erschöpfung ihn überwältigte. Die Lider wurden ihm schwer, die Glieder ebenfalls, und obwohl er sich der Bedrohung bewußt war, beschloß er, für ein paar Minuten die Augen zu schließen. Nur ein paar Minuten.
Der Lärm im Inneren der Mühle war ohrenbetäubend. Kate zuckte zusammen, als sie die Galerie im Obergeschoß des Gebäudes betrat und nach unten schaute. Von einer Stirnseite zur anderen verlief eine Doppelreihe von Fallhämmern, die auf Ambosse niedersausten und das monotone Schlagen produzierten, das von den Wänden widerhallte. Neben jedem Amboß standen eine Wanne mit Wasser und eine
Pfanne mit glühenden Kohlen. Das war ganz offensichtlich eine Schmiede, wo Stahl durch abwechselndes Erhitzen, Hämmern und Kühlen in Wasser vergütet wurde; die Wasserräder lieferten dazu die Energie für die Hämmer.
Doch jetzt knallten die Fallhämmer unbewacht auf die Ambosse, während sieben oder acht Soldaten in Kastanienbraun und Grau jeden Winkel des Raums absuchten, unter den rotierenden Zylindern und den niedersausenden Hämmern nachschauten, die Wände nach Geheimfächern abtasteten und in den Werkzeugkisten stöberten. Kate war sich ganz sicher, wonach sie suchten: nach Bruder Marcels Schlüssel.
Marek wandte sich ihr zu und bedeutete ihr, daß sie die Treppe hinunter und zu einer Seitentür gehen sollten, die einen Spalt offenstand. Es war die einzige Tür in der Seitenwand, sie hatte kein Schloß, und dahinter lag mit großer Wahrscheinlichkeit Marcels Zimmer. Und offensichtlich war es bereits durchsucht worden. Aus irgendeinem Grund schien Marek dies nichts auszumachen, denn er bewegte sich sehr zielstrebig darauf zu. Am Fuß der Treppe zwängten sie sich an den lärmenden Fallhämmern vorbei und schlüpften in Marcels Zelle. Marek schüttelte den Kopf.