Zweiundfünfzig. Einundfünfzig.
Geduckt lief sie in die Kammer, in der sie angekommen war. Das Wasserrad drehte sich ächzend und verspritzte Wasser. Kate schloß die niedrige Tür, aber sie hatte weder Riegel noch Schloß. Jeder konnte hereinkommen. Fünfzig. Neunundvierzig.
Sie schaute nach unten. Die Öffnung im Boden, in der das Kad sich nach Erreichen des Scheitelpunkts wieder nach unten bewegte, war so breit, daß sie hindurchpaßte. Jetzt mußte sie nur noch eine der vorbeiziehenden Schaufeln packen und sich vom Rad nach unten tragen lassen, bis sie tief genug war, um sich gefahrlos ins flache Wasser plumpsen zu lassen.
Aber als sie dann vor dem Wasserrad stand und versuchte, ihren Absprung zu timen, merkte sie, daß das leichter gesagt als getan war. Das Rad schien sich sehr schnell zu drehen, die Schaufeln sausten an ihr vorbei. Wasser spritzte ihr ins Gesicht, sie sah nur verschwommen. Wieviel Zeit hatte sie noch? Dreißig Sekunden? Zwanzig? Sie hatte das Zahlen vergessen, während sie unschlüssig vor dem Rad stand. Aber sie wußte, sie konnte nicht länger warten. Wenn Chris recht hatte, würde die ganze Mühle jeden Augenblick in die Luft gehen. Kate streckte die Arme aus, packte eine Schaufel — spürte den Zug nach unten — bekam Angst - ließ wieder los - packte die nächste - bekam wieder Angst - trat dann einen Schritt zurück, beruhigte sich und konzentrierte sich noch einmal.
Wieder ein Poltern, als die Männer einer nach dem ändern von oben in den angrenzenden Raum sprangen. Sie hatte keine Zeit mehr. Sie mußte los.
Noch einmal holte sie tief Atem, packte die nächste Schaufel mit beiden Händen und preßte ihren Körper gegen das Rad. Sie glitt durch die Öffnung — tauchte ins Sonnenlicht - sie hatte es geschafft! - und spürte plötzlich, wie sie vom Rad weggerissen wurde und in der Luft hing. Sie hob den Kopf.
Robert de Kere hielt ihren Arm mit eiserner Faust umklammert. Er hatte im letzten Augenblick durch das Loch gegriffen und sie im Absteigen gerade noch zu fassen gekriegt. Jetzt hielt er sie fest, so daß sie in der Luft baumelte. Zentimeter von ihrem Körper entfernt drehte sich das Rad. Sie versuchte, sich aus de Keres eisernem Griff loszureißen, über sich sein grimmiges, entschlossenes Gesicht. Sie kämpfte. Er hielt sie fest.
Doch dann sah sie eine Veränderung in seinem Blick — einen Augenblick der Unsicherheit -, und der durchweichte Holzboden begann, unter ihm nachzugeben. Das Gewicht ihrer beider Körper war zuviel für die alten Bohlen, die sich jahrelang mit dem Spritzwasser des Rads vollgesaugt hatten. Jetzt bogen sie sich langsam durch. Eine Bohle zersplitterte lautlos, und de Kere brach bis übers Knie ein, aber er ließ Kate nicht los.
Wieviel Zeit noch, dachte sie. Mit der freien Faust schlug sie auf de Keres Handgelenk, damit er sie losließ. Wieviel Zeit noch?
De Kere war wie ein Pitbull, der sich festbiß und nicht mehr losließ. Eine zweite Bohle brach, er kippte zur Seite. Wenn noch eine brach, würde er mit ihr in die Tiefe stürzen.
Aber es war ihm gleichgültig. Er würde sie festhalten bis zum bitteren Ende.
Wieviel Zeit noch?
Mit der freien Hand packte sie eine Schaufel und ließ sich gegen den Widerstand von de Keres Griff nach unten ziehen. Ihre Arme brannten vor Spannung, aber es funktionierte — die Bohlen brachen — de Kere stürzte ins Leere — er ließ sie los - und sie fiel das kurze Stück, das sie noch vom brodelnden weißen Wasser um das Rad herum trennte. Dann gab es einen gelben Lichtblitz, und das hölzerne Gebäude verschwand mit einem berstenden Knall. Sie sah Bretter, die in alle Richtungen flogen, dann drehte sie sich und tauchte mit dem Kopf zuerst in das eisige Wasser. Eine Sekunde lang sah sie Sterne, dann verlor sie im aufgewühlten Wasser das Bewußtsein.
Chris wurde von Geschrei geweckt. Er hob den Kopf und sah Soldaten, die in großer Verwirrung über die Mühlenbrücke liefen. Ein Mönch in weißer Kutte kletterte aus einem Fenster des größeren Gebäudes. Es war Marek, der mit seinem Schwert auf jemanden im Inneren einschlug. Schließlich glitt er an Ranken herab, bis er tief genug war, um einen Sprung riskieren zu können, und ließ sich dann in den Fluß plumpsen. Chris sah ihn nicht wieder an die Oberfläche kommen. Ein paar Momente später explodierte die Getreidemühle in einem Lichtblitz und einer Kaskade fliegender Trümmer. Soldaten, die von der Wucht der Explosion in die Luft geschleudert wurden, purzelten wie Puppen von den Wachtürmen. Als Rauch und Staub sich legten, sah Chris, daß die Getreidemühle verschwunden war — nur ein paar brennende Balken waren noch übrig. Tote Soldaten trieben auf dem Fluß inmitten von Brettern der zerstörten Mühle.
Marek sah er nirgendwo, und Kate ebenfalls nicht. Eine weiße
Mönchskutte trieb auf der Strömung an ihm vorüber, und er hatte plötzlich das bestürzende Gefühl, daß Marek tot war.
Wenn das stimmte, dann war er allem. Es war ihm egal, ob er abgehört werden konnte. Er tippte sich ans Ohr und fragte leise: »Kate? Andre?«
Keine Antwort.
»Kate, bis du da? Andre?«
Er hörte nichts in seinem Ohrstöpsel, nicht einmal statisches Rauschen. Ein Männerkörper trieb mit dem Gesicht nach unten auf dem Fluß. Er sah aus wie Marek. Wirklich? Ja. Chris war sich sicher: dunkelhaarig, groß, stark, in einem leinenen Unterhemd. Chris stöhnte auf. Etwas weiter oben am Ufer schrien Soldaten; er hob den Kopf, um nachzusehen, wie nah sie waren. Als er dann wieder zum Fluß schaute, war der Körper weitergetrieben.
Chris setzte sich wieder und versuchte zu überlegen, was er jetzt tun sollte.
Mit dem Gesicht nach oben durchbrach Kate die Wasseroberfläche. Hilflos trieb sie mit der Strömung flußabwärts. Um sie herum prasselten zersplitterte Holzstücke ins Wasser wie Geschosse. Der Schmerz in ihrem Nacken war so heftig, daß er ihr fast den Atem nahm, mit jedem Atemzug schossen ihr elektrische Schläge in Arme und Beine. Sie konnte ihren Körper nicht regen, und erst dachte sie, sie sei gelähmt, doch dann merkte sie, daß sie ihre Fingerspitzen und Zehen bewegen konnte. Der Schmerz zog sich zurück, an ihren Gliedern hoch, und setzte sich im Genick fest, wo er sehr heftig war. Aber sie konnte jetzt ein bißchen freier atmen und ihre Glieder bewegen. Sie probierte es noch einmaclass="underline" Ja, sie konnte ihre Glieder bewegen. Sie war also nicht gelähmt. Hatte sie sich das Genick gebrochen? Sie probierte kleine Bewegungen, drehte den Kopf ganz leicht nach links, dann nach rechts. Es tat sehr weh, aber es schien alles okay zu sein. Sie trieb auf dem Wasser. Etwas Dickflüssiges troff ihr ins Auge, so daß sie kaum etwas sehen konnte. Als sie es wegwischte, sah sie, daß es Blut war. Es mußte von irgendwo an ihrem Kopf kommen. Ihre Stirn brannte. Sie berührte sie mit der flachen Hand. Danach war die Handfläche hellrot vor Blut.
Noch immer auf dem Rücken trieb sie weiter flußabwärts. Der Schmerz war so stark, daß sie sich nicht traute, sich umzudrehen und ans Ufer zu schwimmen. Vorerst trieb sie nur. Ob die Soldaten sie schon entdeckt hatten?
Geschrei vom Ufer beantwortete ihr Frage. Man hatte sie entdeckt. Chris spähte genau in dem Augenblick über die Büsche, als Kate auf dem Rücken vorbeitrieb. Sie war verletzt, die ganze linke Seite ihres Gesichts war blutverschmiert, offensichtlich von einer Kopfwunde. Und sie bewegte sich kaum. Vielleicht war sie gelähmt.
Einen Augenblick lang kreuzten sich ihre Blicke, und sie lächelte schwach. Er wußte, wenn er sich jetzt zeigte, würde er gefangengenommen, aber er zögerte nicht. Jetzt, da Marek nicht mehr war, hatte er nichts mehr zu verlieren, da konnten sie genausogut bis zum Ende zusammenbleiben. Er platschte ins Wasser und watete zu ihr hinaus.
Erst jetzt erkannte er seinen Fehler.
Er war in Reichweite der Bogenschützen, die noch auf dem übriggebliebenen Brückenturm standen und jetzt auf ihn schossen. Ein Hagel von Pfeilen prasselte um ihn herum ins Wasser. Im selben Moment trieb ein Ritter in voller Rüstung sein Pferd von Arnauts Seite her ins Wasser. Der Ritter hatte sein Visier heruntergeklappt, und Chris konnte sein Gesicht nicht sehen, aber offensichtlich fürchtete er nichts, denn er ritt so, daß er mit seinem Körper und seinem Pferd den Bogenschützen die Schußbahn verstellte. Das Pferd sank immer tiefer, je näher sie kamen, und schwamm schließlich; der Ritter war bis zur Taille im Wasser, als er Kate wie einen nassen Sack auf seinen Sattel hievte, dann Chris am Arm packte, »Allons« rief und zum Ufer zurückkehrte.