»Nicht der Rede wert. Hier und da eine Beule am Kopf, aber nichts Schlimmeres.«
»Gut. Dann wecken wir die Bewohner des rath und sagen ihnen, sie sollen sich im Ratssaal versammeln.«
Ibor zögerte.
»Eins solltest du noch wissen, Schwester. Wir fanden den Weg ins Tal, und er war genauso, wie du ihn uns beschrieben hast. Es war ein Felsenpfad neben dem schäumenden Fluß, der sich aus diesem Tal ergießt. Ab und zu wand sich der Pfad durch Höhlen, bevor er ins Tal führte. Wir folgten ihm, wie du gesagt hattest. In einer der Höhlen entdeckten wir Artgal.«
Sie zeigte keine Bewegung.
»Er war tot, nehme ich an?«
»Er war tot«, bestätigte Ibor. »Woher weißt du das?«
»Auf welche Weise fand er den Tod?« erkundigte sie sich und überging seine Frage.
»Das kann ich nicht sagen. Er hatte eine Tasche bei sich, als wolle er auf eine lange Reise gehen. Eine Wunde hatte er nicht.«
Eadulf schaute Ibor erstaunt an.
»Keine Wunde?« fragte er. »Keine Wunde, und doch war er tot?«
»Wer weiß, woran er starb?« Ibor zuckte die Achseln. »Was tötet, ohne eine Wunde zu hinterlassen? Als ich mir die Leiche genauer anschaute, sah ich, daß Artgals Gesicht von gräßlicher Furcht verzerrt war. Die Lippen waren blau angelaufen und verzogen, Zähne und Zahnfleisch waren sichtbar. Die Augen traten hervor, als habe er den Teufel persönlich erblickt. Ich habe in meinem Leben schon mehrere Tote mit solchen Gesichtern gesehen, alle Heiden. So töten Druiden. Gott schütze uns, Schwester. Ich mußte einigen meiner Männer mit dem Schwert drohen, um sie zum Weitermarsch in dieses verfluchte Tal zu zwingen.«
Fidelma senkte die Augen und dachte ein paar Momente nach. Dann hob sie den Kopf, sie war gefaßt.
»Ich meine, das letzte Stück des Puzzles ist jetzt eingefügt«, sagte sie befriedigt. »Ich bin bereit. Holt die Bewohner der Burg im Ratssaal zusammen, mit Ausnahme der Kinder. Ich bin in fünfzehn Minuten auch dort.«
Ibor war schon auf dem Wege zur Tür, als sie ihn zurückrief.
»Im oberen Stockwerk findest du einen Krieger aus diesem rath - Rudgal. Er ist gefesselt. Laß ihn von zwei deiner Krieger in den Saal schaffen, aber bindet ihm nicht die Hände los.«
Ibor sah sie erstaunt an, dann zuckte er die Achseln und bestätigte ihren Befehl mit zum Gruß erhobenem Schwert.
Als Fidelma, gefolgt von Eadulf, den Ratssaal betrat, kam feindseliges und wütendes Gemurmel auf. Die führenden Einwohner des rath waren von Ibors Männern mit gezogenen Schwertern in die Halle gebracht worden. Ihre eigenen Schwerter hatte man ihnen abgenommen. An jedem Eingang hielten Ibors Krieger Wache, während am Amtssessel Ibor selbst und zwei seiner Männer den Fürsten von Gleann Geis bewachten. Im ganzen war etwa ein Dutzend Krieger der Craobh Righ im Saal verteilt. Fidelma vermutete, daß die anderen als Posten an den Toren des rath und auf den Mauern standen.
Laisre lehnte bleich vor Zorn in seinem Amtssessel.
Murgal saß daneben und wirkte ebenfalls nicht gerade glücklich. Colla stand hinter seinem Fürsten, sein Gesicht war gerötet und voller Groll. Orla hielt sich an seiner Seite. Finster und feindselig blickte sie Fidelma an. Freundlichkeit oder Entgegenkommen war auf keinem Gesicht in der Halle zu entdecken. Nur Esnad schien von den Vorgängen unberührt.
Fidelma schaute sich in der Halle um. Dort stand Rudgal mit zorniger Miene. Seine Arme waren noch gefesselt. Ronan und seine zänkische Frau Bairsech waren da, ebenso die Prostituierte Nemon, die füllige Verwalterin Cruinn und die Apothekerin Marga. Das waren die Leute, die Ibor auf Fidelmas ausdrücklichen Wunsch hatte in den Saal schaffen lassen. Alle außer Ibor und seine Männer sahen Fidelma haßerfüllt an, als sie ihren Platz einnahm.
Laisre sprach als erster. Er erhob sich, am ganzen Leibe zitternd.
»Nun, Fidelma von Cashel, dein barbarisches Vorgehen kann nur mit Blut gesühnt werden«, verkündete er. »Du hast alle Regeln der Gastfreundschaft gebrochen, du hast fremde Krieger dazu benutzt, uns gefangenzusetzen .«
»Barbarei ist ein guter Ausdruck für das Übel, das sich in diesem Tal ausgebreitet hat«, unterbrach ihn Fidelma kühl. Ihre Stimme brachte ihn zum Schweigen, ehe er sich noch mehr in Rage reden konnte. »Ich bin hier, um die Wahrheit darüber aufzudecken.«
»Mit Hilfe von Kriegern aus dem Norden, Fidel-ma?« fragte Colla. »Wie können Krieger aus Ulaidh aus den Bewohnern von Muman irgendeine Wahrheit herauspressen? Behandelt dein Bruder so sein Volk, mit Gewalt von außen? Mit fremden Söldnern?«
»Ich fürchte, du tust Ibor und seinen Männern unrecht. Sie stehen nicht im Solde Mumans. Sie sind auch nicht hier, um etwas zu erzwingen, sondern nur, um die Unschuldigen unter euch vor Schaden zu bewahren und dafür zu sorgen, daß die Wahrheit endlich gehört wird. Und ihr werdet mir zuhören, denn ich spreche nicht nur als die Stimme meines Bruders, des Königs, sondern als eine dalaigh mit dem Grad eines anruth, deren Stimme von Königen gehört wird und der sogar der Großkönig sich beugt.«
Ihre ruhige Sicherheit gebot allen im Ratssaal zu schweigen.
Gelassen meldete sich Murgal zu Wort: »Sag uns deine Wahrheit, Fidelma von Cashel, und wir werden dir mit unserer antworten.«
Fidelma lächelte ihn an.
»Wenn euch dann noch eine Wahrheit zur Antwort bleibt«, konterte sie leise.
Einen Moment hielt sie still den Kopf gesenkt und wartete, während die Spannung in der Halle stieg.
Als Eadulf sich schon fragte, ob sie gebeten werden wollte und er das übernehmen sollte, begann Fidelma zu sprechen, zuerst leise.
»Ich habe vor vielen Rätseln gestanden, seit ich als Anwältin bei unseren Gerichten zugelassen wurde. Ich will nicht sagen, daß sie einfach zu lösen waren. Bruder Eadulf weiß, daß viele es nicht waren, denn er war oft ebenfalls damit befaßt. Das Rätsel, das ich hier vorfand, hat mich lange Zeit verwirrt hat. Worum handelte es sich?«
Niemand antwortete.
»Als Bruder Eadulf und ich hierherkamen, stießen wir vor der Schlucht, durch die man ins Tal gelangt, auf dreiunddreißig ermordete junge Männer, die anscheinend nach einem heidnischen Ritual hingeschlachtet worden waren; ihre Leichen waren nackt und in einem sonnenwärts gerichteten Kreis angeordnet. Jeder der Männer war auf eine Art getötet worden, die unsere Vorfahren als den Dreifachen Tod kannten. Dann folgte der Mord an Bruder Solin.«
»An dem du beinahe für schuldig befunden worden wärst«, warf Orla heftig ein. »An dem du mir die Schuld geben wolltest. Nur aufgrund einer Regel des Gesetzes, mit der der Angelsachse beweisen konnte, daß Artgal ein unglaubwürdiger Zeuge war, kamst du auf freien Fuß. Du wurdest jedoch nicht für unschuldig befunden. Du könntest trotzdem die Mörderin Solins sein!«
Murgal schien unangenehm berührt von dieser Rede, die man als Kritik an seinem Urteil auffassen konnte. Er sah Orla kopfschüttelnd an.
»Orla, mein Urteil gilt. Ich kann nur nach unserem Gesetz urteilen.«
Orla gab ihm einen finsteren Blick zurück, schwieg aber.
Fidelma wandte sich nun an Murgal.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen oder gar dein Urteil zu rechtfertigen, Murgal. Auf den Tod So-lins folgte sehr bald der Mord an Bruder Dianach.«
Murgal beugte sich vor und sagte: »Und der läßt sich leicht erklären, denn offensichtlich hat Artgal Dianach aus Rache oder einem ähnlichen Grund getötet, nachdem ans Licht gekommen war, daß Dianach ihn bestochen hatte, damit er seine Aussage gegen dich aufrechterhielt.«
Fidelma überging die Unterbrechung.
»Und anschließend ist Artgal aus dem Tal geflohen und hat damit für manche die Tat gestanden?«
»Genau«, sagte Murgal befriedigt.
»Und unterwegs hat er sich vergiftet?«
Es trat ein überraschtes Schweigen ein.
»Ja«, fuhr Fidelma gelassen fort. »Artgal wurde tot in einer der Höhlen am Fluß gefunden. Er ist an Gift gestorben.«