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»… feile eine Spitze ab …« lallt die Frauenstimme. Gleich darauf erklangen vier kurze, hohe Pfeiftöne.

»Was ist das?« fragte Aranda.

Groll drückte wieder auf die Taste und hielt das Band an.

»Der Inspektor hatte einen Zeichengeber an das Gerät angeschaltet. Ein Kollege legte ihm einen Zettel hin. Darauf stand mit Name und Adresse der Besitzer des Anschlusses, den die Frau benützte. Die Spezialisten hatten das richtige Relais gefunden. Der Anruf kam aus der Buchhandlung Landau in der Seilergasse. Eine Funkstreife mit Polizisten und Kriminalbeamten raste sofort los. Kemals Kollege verständigte von einem anderen Apparat aus uns hier, meine Mordkommission. Der Inspektor wollte das Gespräch natürlich immer noch so lang wie möglich weiterführen, um die Frau festzuhalten.«

Die Teller kreisten wieder.

»… das Zyankali in sein Glas … rufe ihn ins Teekammerl … Er ahnungslos … völlig ahnungslos … erkennt mich nicht … Bedankt sich noch einmal!« Valerie Steinfeld lachte wieder ihr schreckliches Lachen.

»Trinkt … einen großen Schluck! Dann … dann …«

»Ja, ich verstehe. Und wer sind Sie? Von wo sprechen Sie?«

»Jetzt konnte Kemal es riskieren«, murmelte Groll.

»Ich …« krächzte die Frauenstimme, »ich …« Klick! machte es. Dann summte nur noch der Lautsprecher.

»Da hat sie den Hörer niedergelegt«, sagte der Hofrat. Er stand auf und stellte das Gerät ab. Dabei verstreute er Zigarrenasche über Hemd und Weste. »Ein paar Minuten später brachen die Polizisten der Funkstreife die Eingangstür der Buchhandlung auf.« Groll ging zu dem halb geöffneten Fenster.

Der Hofrat atmete tief die frische, eiskalte Luft ein. Ich bin hier der Verbindungsmann zur Staatspolizei, dachte er. Auch wenn ich schon mehr wüßte, als wir ahnen, dürfte ich dir nichts sagen, mein Junge, nicht das geringste. Und das, was ich schon weiß, darf ich dir erst recht nicht sagen, sie haben es mir verboten, die hohen Herren von der Staatspolizei.

Hohe und höchste Herren, dachte Groll, und hier sitzt ein kleiner Mann, er kommt von der andern Seite der Erde, keiner kennt ihn, ohne Schutz ist er, ohne Hilfe, allein. Groll dachte an die furchtbare Stärke der Starken, die gräßliche Größe der Großen, die schreckliche Hilflosigkeit der Hilflosen und daran, wie das alles zusammengehört, einander ergänzt, einander entstehen läßt. Er drehte sich um und sagte: »Die Polizisten fanden in einem kleinen Hinterzimmer der Buchhandlung, in diesem Teekammerl, wie es heißt, zwei Tote – Ihren Vater, Raphaelo Aranda, und Valerie Steinfeld. Sie muß, unmittelbar nachdem sie aufgelegt hatte, Zyankali genommen haben. Und zwar in einer Kapsel, die sie zerbiß. Als wir mit unserem Arzt eintrafen, fand er Glassplitter in ihrem Mund. Die beiden Leichen lagen ganz dicht nebeneinander auf dem Boden …« Groll streifte Asche von seiner, Virginier. »Ihre Hände«, sagte er und dachte an das Ginkgo-Blatt, »berührten einander.«

Manuel Aranda antwortete nicht.

»Es tut mir leid«, sagte Groll. »So war es. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«

»Nein, danke.«

»Whisky? Cognac? Slibowitz? Wodka?«

»Nein, wirklich nicht. Ich … ich möchte …«

»Was?«

»Ich möchte das Band noch einmal hören«, sagte Manuel Aranda.

9

»Ihr Vater war Chemiker, heißt es …?«

Irene Waldegg fuhr vorsichtig das Stück Allee zwischen den Gruppen 73 und 55 entlang. Beim letzten großen Rondell war ihr ein verlassener Wagen aufgefallen, der dort parkte.

»Chemiker, ja, und Biologe.« Manuel Aranda nickte. Sie sprachen jetzt wieder mit normalen Stimmen, leise und scheu, so, als schämten sie sich für ihr Betragen bei der Begegnung. »Er besaß eine Fabrik in Buenos Aires, die QUIMICA ARANDA.«

»Pharmazeutika?«

»Nein. Die QUIMICA ARANDA ist eine der Hauptherstellerinnen Argentiniens von Pflanzenschutz- und Insektenvernichtungsmitteln.«

»Also eine große Fabrik.«

»Sehr groß, ja. Deshalb wurde mein Vater auch als Vertreter seines Landes zu diesem Kongreß in Wien geladen. Pflanzenschutz-Experten aus der ganzen Welt trafen sich hier.«

Irene Waldegg fuhr über spiegelndes Eis. Es war nun sehr warm im Wagen.

»Sind Sie auch Chemiker?«

»Ich studiere noch. Letztes Semester. Aber ich habe natürlich schon in unseren Laboratorien gearbeitet – während der Ferien.«

Irene Waldegg bog in die Allee zwischen den Gruppen 73 und 74 ein. Sie fuhr langsam.

»Da vorne irgendwo ist es. Die Gruppe fängt hier an.«

»Der fünfte Weg, sagte der Pförtner.«

»Ja, der fünfte Weg. Schwer zu sehen bei dem Schnee. Vorgestern war wenigstens ein Pfad freigeschaufelt. Alles längst zugeweht.«

Aus der Ferne erklang ein leises Dröhnen, das rasch lauter wurde. Vom nahen Flughafen Schwechat war wieder einmal eine Maschine gestartet und schickte sich an, den Friedhof zu überfliegen.

»Das ist der zweite Weg …«

»Richtig«, sagte Aranda. »Ihre Tante – war sie einmal verheiratet?«

»Sie war es, ja. Ihr Mann ist noch während des Krieges gestorben.«

»Wo?«

»An der Front, glaube ich. Nach einer Verwundung. Ich weiß es nicht genau. Valerie hat nie gerne darüber gesprochen. Der dritte Weg …«

Das Dröhnen der anfliegenden Maschine war sehr laut geworden.

»Und Kinder hatte sie nicht?«

»Doch. Einen Sohn. Aber mit dem verstand sie sich nie. Leider. Der war bei Kriegsende noch keine zwanzig Jahre alt. Heinz hieß er, ich habe Fotos gesehen. Sieht nett aus auf den Fotos. Aber er vertrug sich nicht mit Valerie!« Irene Waldegg schrie jetzt beinahe, so laut war der Lärm des Flugzeugs geworden. »1947, als die großen Auswandererprogramme nach Kanada anliefen, hat er sich sofort gemeldet und ist fortgezogen. Ein Jahr später kam er dann bei einem Autounfall in Quebec ums Leben. Das war der vierte Weg. Und da vorne ist der fünfte!« Irene ließ den Mercedes ausrollen. Die Maschine war jetzt direkt über ihnen. Ihre Düsen röhrten, heulten und kreischten. Sie jaulten und donnerten und schienen das Flugzeug jeden Moment zur Explosion bringen zu wollen, als Irene den Wagen anhielt, die Handbremse zog und den Motor abstellte. Sie öffnete den Schlag an ihrer Seite und stieg aus.

Vater im Himmel, dachte Clairon. Er sah Irenes Kopf im Fadenkreuz der 98 k. Wer ist das Weib? Wie kommt es hierher? Da haben wir es, dachte Clairon erbittert. Verfluchte Klugscheißer! Was habt ihr jetzt für einen Salat angerichtet? Wo ist überhaupt Aranda? Der ist ja gar nicht da! Oder doch, da taucht er auf, hinter dem Wagen. Und was hat er in den Händen? »Hier müssen wir hinein«, sagte Irene. »Tatsächlich alles wieder zugeschneit. Und wie!«

Manuel hob den großen Zirkel über den Schneewall am Straßenrand, der den Eingang zum fünften Weg der Gruppe 74 versperrte, steckte ihn in den Schnee und sprang über den Wall. Er versank sofort tief, streckte die Arme aus und half Irene. Sie sprang ungeschickt, glitt aus, und einen Moment hielt er sie fest in den Armen, damit sie nicht hinfiel. Ihre Gesichter berührten einander. Hastig machte sie sich los. Er trat einen Schritt zurück.

»Ich gehe vor, und Sie treten in meine Fußstapfen«, sagte er.

»Aber Ihre Schuhe …«

»Sind hoch genug. Ihre Stiefel haben glatte Sohlen. Ich will nicht, daß Sie noch wirklich stürzen. Seien sie vorsichtig. Und sagen Sie mir, wie ich gehen soll.«

»Zuerst geradeaus bis zu der großen Fichte da vorne, dann links.«

Was ist das für ein Ding, das Aranda da schleppt? überlegte Clairon. Der Lauf der 98 k war jetzt in Bewegung, er rieb sich an der Engelszehe. Clairon verfolgte das Paar aufmerksam. Nun sah er groß Irenes Rücken im Zielfernrohr, sah den grauschwarzen Seehundmantel, sah, Sekundenbruchteile lang, die eine oder die andere Schulter Arandas, einen kleinen Teil seiner Pelzmütze.

Immer noch donnerte die Boeing 707, doch ihr Lärm wurde schnell geringer. Die Krähen begannen wieder zu schreien.

Gütiger Gott, dachte Clairon, was mache ich jetzt? Diese junge Frau, wer immer das ist, verdeckt mir dauernd diesen Aranda. Natürlich könnte ich sie zuerst erledigen. Aber das darf ich nicht. Was geschieht, wenn Aranda sich dann sofort hinwirft oder hinter einen Grabstein springt? Wenn er mir entkommt? Ich kann hier kein Schützenfest veranstalten. Ich muß unbedingt zuerst ihn treffen! Er ist mein Ziel, nicht die Frau. Die Frau erledige ich natürlich gleich hinterher, wenn es mit dem Repetieren so rasch klappt und sie sich nicht auch hinwirft oder versteckt. Ich darf kein Risiko eingehen. Junge, Junge, das ist vielleicht ein Mist. Na, es hilft nichts, ich muß Geduld haben und warten. Auch nicht unbedingt opportun, daß ich abdrücke, solange kein Flugzeug uns überfliegt und den Knall des Schusses verschluckt. Jetzt ist es – Blick auf die Armbanduhr – 14 Uhr 49. Um 15 Uhr 10 startet AIR FRANCE Flug 645 nach New York via Paris. Wollen wir warten und hoffen. Was sonst kann ich tun?