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Ihre Maschine startete gegen Mittag des 6. Juni 1945.

Als Nora Hill sich am Morgen dieses Tages aus ihrem Bett erheben und ins Badezimmer gehen wollte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß die Beine vor Schwäche einknickten. Sie konnte sie kaum bewegen. Drei Tage später war Noras Körper gelähmt – von den Hüften bis zu den Zehen.

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Zwischen 1945 und 1947 nahmen die besten Spezialisten in Lissabon, Rom und Paris an Nora Hill insgesamt elf schwere Operationen vor. Ein ganzes Jahr verbrachte sie in der Pariser Privatklinik des französischen Neurologen Professor Fleury, denn es stand von Anfang an fest, daß man die Lähmung auf Verletzungen zurückführen mußte, die sie sich zugezogen hatte, als sie am Strand von Estoril auf die Holzbohlen des Landestegs geschlagen war.

Die elf Operationen blieben ohne jeden Erfolg. Nora Hill konnte nicht stehen, sie konnte ihre Beine nicht um einen einzigen Zentimeter von der Stelle bewegen. Damit sie nicht die ganze Zeit über liegen mußte, erhielt sie einen besonders konstruierten Rollstuhl. In ihm vermochte sie zu sitzen. Die Schwester, die sie in jenen zwei Jahren betreute – eine junge Französin –, schob das Wägelchen auf den Balkon von Noras Krankenzimmer, wenn das Wetter schön war. In späteren Monaten wurde Nora von der jungen Schwester durch den Park der Klinik gefahren. Sie war eine unglaublich geduldige und fügsame Patientin.

Nach der elften Operation sagte Professor Fleury, ein Mann mit weißem Haar und weißem Stutzbart, zu ihr: »Es hat keinen Sinn, Mademoiselle. Sie müssen die Wahrheit hören, ich weiß, Sie werden sie ertragen können. Wir haben alles Menschenmögliche versucht. Die Wahrheit ist …«

»Daß ich nie mehr werde gehen können«, sagte Nora Hill ruhig, ihn unterbrechend.

Professor Fleury nickte.

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Nora Hill nahm den endgültigen Bescheid in Gelassenheit hin. Mit einer für jedermann erstaunlichen Verbissenheit begann sie im Sommer 1947, nach vorhergegangenen Massagen jeder Art, sich auf ein Leben mit Krücken vorzubereiten. Sie übte täglich viele Stunden, bis zur Erschöpfung. Nur Krücken kamen für sie in Frage – jede andere Stützung der Beine schied infolge der weitreichenden Nervenlähmungen aus.

Zum Jahresende 1947 war Nora Hill so weit, daß sie sich bereits ohne Hilfe auf ihren Krücken fortbewegen konnte. Noch immer besaß sie große Vermögenswerte an Schmuck, noch immer war sie eine reiche Frau. In Paris ließ sie sich eine neue, nun notwendige Garderobe, bestehend aus eigens für sie entworfenen Hosenanzügen jeder Art, anfertigen. Die britische Botschaft hier kümmerte sich in der gleichen intensiven Art um sie wie jene in Lissabon. Sie war doch eine Frau, die im Krieg ihr Leben für Großbritannien eingesetzt hatte! Am 3. Januar 1948 flog sie mit einer englischen Militärmaschine nach Wien.

Die Villa nahe dem Lainzer Tiergarten hatten britische Offiziere requiriert. Sie fiel unter den Sammelbegriff ›Deutsches Eigentum‹ und gehörte damit dem österreichischen Staat. Alle Offiziere waren auf Nora Hills Ankunft vorbereitet worden. Die Heimkehrende fand ihr Appartement im ersten Stock so vor, wie sie es zweieinhalb Jahre zuvor verlassen hatte. Die Engländer stellten ihr einen Jeep und einen Sergeanten als Fahrer zur Verfügung. Nora Hill erhielt, nach Verhandlungen britischer Militärs mit den österreichischen Behörden, die Erlaubnis, das seltsam rund gebaute Haus als Eigentum zu erwerben.

Nun gehörte die Villa ihr!

Die englischen Offiziere blieben noch bis 1950 Noras Gäste, mit denen sie Feste feierte und viele interessante Gespräche führte. Sie wurde Schwarzmarktkönigin Wiens. Sie handelte mit deutschem Armeegut, Schrott, Marvel-Zigaretten, auch mit Menschen. Aus jener Zeit stammten ihre ersten Verbindungen zu verschiedenen Geheimdiensten. 1950 bereits hatte Nora Hill ihr großes Vermögen vervielfacht. Und sie besaß feste Vorstellungen von der Zukunft …

Bald nachdem sie die Villa erworben hatte, entsann Nora sich Valerie Steinfelds, und am 17. März 1948 ließ sie sich in die verelendete, schmutzige und triste Stadt, durch eine zum Teil ausgebombte Kärntnerstraße, die, einmal Luxusboulevard von Wien, nun der Hauptstraße eines polnischen Dorfes glich, zur Seilergasse und der Buchhandlung Landau fahren. Sie bat den Sergeanten am Steuer, zu warten, dann schwang sie, in einem kanadischen Nerz, schmuckbehangen, in langen Seidenhosen, auf Leichtmetallkrücken, dem alten Laden mit seinem verwitterten Blechschild über dem Eingang entgegen. Silberhell erklang die Melodie des Glockenspiels über der Tür.

›Freut euch des Lebens …‹

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Da stand der Bär mit dem Bücherkorb in den Vorderpfoten. Der Korb war leer. Nora blickte sich um, auf den Krücken balancierend. Licht brannte wie einst in den von der hohen Decke herabhängenden Milchglaskugeln. Die Hälfte der Regale war leer. Nora erblickte nur wenige neue Bücher, die meisten waren antiquarisch. Aus dem seitlichen Eingang zu den hinteren Lagerräumen, an den Nora sich genau erinnerte, trat, schäbig gekleidet, abgemagert und noch schwächlicher geworden, den Kopf schief gelegt, die linke Schulter hochgezogen, Martin Landau. Er sprach so leise, und er war wieder so schreckhaft, wie Nora Hill ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte.

»Guten Tag, gnädige Frau …«

»Guten Tag, Herr Landau. Erkennen Sie mich nicht?«

»Fräulein Hill!« Landau griff sich an das Herz. »Mein Gott, wie freue ich mich! Wir haben schon geglaubt, es ist Ihnen etwas passiert …«

»Ein wenig ist mir passiert.«

»Ja, das sehe ich. Furchtbar. Wie …« Er brach ab.

»Ein Unfall«, sagte Nora schnell. »Sonst geht es mir ausgezeichnet.« Sie hielt ihm die Hand hin, die er schüttelte. Seine Hand war eiskalt. »Und wie geht es Ihnen?«

»Oh, danke. Wir haben überlebt, nicht wahr? Immerhin … die Hauptsache. Wir dürfen nicht klagen. Wenn es erst wieder genug Bücher gibt …«

»Wo ist Frau Steinfeld?«

Martin Landau sah zur Seite.

»Im Teekammerl. Schreibt einen Brief, ich habe gerade diktiert. Ich werde sie sofort holen …«

»Nein, ich möchte zu ihr gehen«, sagte Nora. »Ich darf doch?«

»Aber natürlich … Ich dachte nur … immerhin …« Sein Blick glitt wieder zu den Krücken.

»Schauen Sie, das funktioniert schon ausgezeichnet mit ihnen!« Nora Hill schwang schnell über die verzogenen Bohlen des Bodens. Er sah ihr nach, bleich, verhungert und ängstlich.

»Mein Gott«, murmelte er, »mein Gott …«

Nora Hill passierte den schmalen Gang, in dem während des Krieges antiquarische Kriminalromane gestanden hatten. Jetzt waren die Regale leer, voll Staub und Spinnweben. Aus dem Teekammerl drang der Schein der grünbeschirmten Lampe.

»Frau Steinfeld!« rief Nora.

»Ja«, sagte eine klanglose, müde Stimme.

Im nächsten Moment erreichte Nora das Teekammerl und sah Valerie, die vor dem Schreibtisch saß und sich umgedreht hatte. Sie trug einen Verkäuferinnenmantel – wie damals, dachte Nora, wie damals –, und auch sie war blaß gleich Landau und machte einen sehr gealterten Eindruck. Das blonde Haar hatte sie hochgekämmt. Es leuchtete nicht mehr. Die einst so strahlenden blauen Augen waren glanzlos geworden.

»Ich bin Nora Hill, Frau Steinfeld!«

»Natürlich, Fräulein Hill. Ich habe Sie gleich erkannt. Wie schön, daß Sie uns einmal besuchen. Bitte, nehmen Sie Platz.« Valerie hatte sich erhoben. Auch ihre Hand war eiskalt, bemerkte Nora. Vorsichtig, aber schnell ließ sie sich in den defekten Schaukelstuhl gleiten. Erst als sie saß, nahm auch Valerie wieder Platz. Ihr Blick war nicht allein stumpf, er war seltsam starr und beständig leicht über die rechte Schulter Noras gerichtet. Die mageren Hände verschränkte Valerie im Schoß. Sie lächelte. Wie eine Blinde wirkt sie, dachte Nora plötzlich, ja, wie eine Blinde.