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Manuel fragte: »Und Paul Steinfeld? Was geschah mit dem? Wissen Sie das auch?«

»Ja«, sagte Tilly Landau. »Das weiß ich auch …«

59

»Wydalo mi sie, ze swiat – obojetny dotad na moje sprawy – zwrocil …« erklang eine junge Frauenstimme aus dem Lautsprecher des großen ›Minerva 405‹. Ohne Decke über sich und dem Apparat, saß Valerie Steinfeld auf dem Sofa des Teekammerls. Sie hatte BBC ziemlich laut eingestellt. Martin Landau rumorte vorne im Laden, der wegen der Mittagspause noch geschlossen war. Man schrieb den 18. Mai 1945, es war 13 Uhr 20, und in Wien hatte bereits vor mehr als zwei Monaten ein herrlicher Frühling begonnen. Sommerlich warm war es auf den Straßen, zwischen Ruinen und Trümmern blühten Sträucher, Bäume und viele Blumen. Schon der Kampf um Wien war bei solch herrlichem Wetter zu Ende gegangen. In größter Eile hatte man die Toten, Zivilisten, deutsche und russische Soldaten, dazu viele Pferdeleichen, in den Parks vergraben müssen, denn sie verwesten rasch. Valerie war sehr mager, ihr Rücken leicht gekrümmt. »… sie nagle ku mnie«, sprach die junge Frauenstimme, dann wurde sie leiser, und während sie weiter ertönte, erklang jene Männerstimme, die Valerie Steinfeld seit Jahren mit klopfendem Herzen hörte, die Stimme, die Paul zu ihr brachte, ihren einzigen Trost in den schweren und dunklen Jahren, die hinter ihr lagen bis zu der bangen Gegenwart, in der sie ohne Nachricht von Heinz lebte, ohne zu wissen, ob er noch existierte, ob er verwundet, gefangen, getötet worden war.

In dieser Sendung der BBC redeten viele Stimmen in vielen Sprachen. Reporter des Senders waren in Deutschland unterwegs gewesen und hatten zwei Dutzend von den Millionen Flüchtlingen und Zwangsverschleppten interviewt, welche nun über die Landstraßen zogen. Die Aufnahmen waren nach London gebracht und zusammengestellt worden. Valerie lauschte dem Stimmenbabel, denn immer wieder, nach den ersten Worten eines Fremden, ertönte die Stimme ihres Mannes, der, während der Interviewte leise weitersprach, seine Worte übersetzte, wie auch jetzt: »Es war, als hätte die abgekehrte Welt sich umgewandt und würde mich plötzlich ansehen. Das Grün auf den Wiesen war in eine jähe Helle gerückt, als sei es aus einem Hintergrund hervorgekrochen …«

Draußen klopfte jemand lange und laut gegen die verschlossene Eingangstür, Valerie hörte es deutlich. Dann erklang Martins Stimme. Er rief etwas. Das Klopfen ging weiter. Valerie kümmerte es nicht. Sie lauschte der Stimme ihres Mannes: »Die Rinde der Baumstämme begann silbern zu leuchten …«

Im Verkaufsraum ertönte das Glockenspiel. Martin hatte also die Eingangstür geöffnet. Jetzt hörte Valerie ihn und einen Fremden sprechen.

Immer noch lauschte sie der Stimme aus London, die übersetzte, was die junge Polin sagte: »Der Himmel war nicht mehr fern. Er hatte sich in warmer Vertrautheit seiner Erde zugekehrt, belichtete ihre Weiten, beschattete ihre Gründe, folgte dem Flug der Vögel und trat in die Kelche der Blumen ein. Es war die Freiheit …«

Während der letzten Worte hatte Valerie Schritte näherkommen gehört. Nun blickte sie auf. Im Eingang des Teekammerls stand ein sowjetischer Offizier.

Der Russe nahm seine Tellerkappe ab und verbeugte sich. Er war knapp vierzig Jahre alt und hatte ein ernstes Gesicht mit großen, dunklen Augen.

Valerie drehte den Tonregler des Apparates zurück, so daß die Stimme aus London ganz leise wurde, und stand auf.

»Der Herr Major will dich unbedingt sofort sprechen«, erklärte Martin Landau, hinter dem Russen stehend, die linke Schulter hochgezogen, sehr unruhig. »Er sagt, es ist dringend.«

»Ja, es ist dringend.« Der Offizier sprach fließend deutsch mit russischem Akzent. »Ich heiße Mossjakow, Frau Steinfeld. Ich habe in der deutschen Abteilung von Radio Moskau gearbeitet. Jetzt bin ich als Kontrolloffizier bei Radio Wien. Wir bauen das Sendenetz wieder auf. Ich komme gerade aus Salzburg. Dort habe ich mit amerikanischen und englischen Rundfunkoffizieren und ein paar Reportern von BBC gesprochen.«

»Und?« Valeries Gesicht war unbeweglich wie eine Maske.

»Einer der BBC-Leute hieß Gordon White. Kennen Sie ihn?«

»Nein.«

»Aber er kannte Ihren Mann. Er bat mich, Sie aufzusuchen, wenn ich wieder in Wien bin …« Mossjakow trat einen Schritt vor, als wollte er Valerie stützen. »Es tut mir furchtbar leid, Frau Steinfeld, aber ich muß es Ihnen sagen. Sie werden es auch noch offiziell erfahren, sobald die anderen Alliierten nach Wien kommen … Das Rote Kreuz ist völlig überlastet … Bitte, verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen die Nachricht überbringe, ich …«

»Welche Nachricht?« rief Martin Landau.

»Herr Steinfeld ist tot«, sagte der Major Mossjakow.

»Was?« Landau fiel mit dem Rücken gegen ein Regal.

Valerie sah den Russen an, als sähe sie ihn nicht.

»Tot, ja«, sagte Mossjakow.

»Aber wann … aber wie …«, stotterte Landau.

»Er ist schon vor einer Woche gestorben, am elften Mai. Er war leberkrank, sagte mir Gordon White.« Mossjakow sprach jetzt schnell. »Vor einer Woche, ganz plötzlich, brach Herr Steinfeld im Studio zusammen, nach einer Sendung. Sie fuhren ihn ins Krankenhaus, aber es war schon zu spät. Eine Krampfader an der Speiseröhre, hinter dem Herzen, war geplatzt. Die Krampfader ist durch die kranke Leber entstanden. Ihr Mann verblutete innerlich, Frau Steinfeld. Gordon White sagte, ich sollte Ihnen versichern, daß Ihr Mann unter keinen Umständen gelitten hat. Er fand einen ganz leichten Tod …«

»Valerie!« rief Martin Landau. »Valerie!« Er trat auf sie zu, an Mossjakow vorbei. »Beruhige dich, Valerie, ich bitte dich, immerhin, es ist ein entsetzliches Unglück, aber du darfst jetzt nicht …«

»Sei ruhig«, sagte die Frau mit dem blonden Haar und den blauen Augen zu Landau. Zu Mossjakow sagte sie völlig gefaßt: »Das muß ein Irrtum sein, Herr Major.«

»Ich fürchte, es ist kein Irrtum, Frau Steinfeld.«

»Aber ja doch!« Valerie drehte den Tonregler des Radioapparates auf laut. Eine verdeckte jugoslawische Männerstimme und darüber, tönend, die übersetzende deutsche Männerstimme erklangen: »… ich habe das Grauen überlebt. Ich bin auf dem Weg nach Serajewo. Wenn Gott auch ihnen geholfen hat, wie er mir half, dann sind meine Frau und mein Sohn gesund und wohlauf, und ich werde sie wiedersehen, und wir werden alle wieder zusammensein …«

»Da!« rief Valerie Steinfeld, während die Stimme weiter übersetzte. »Da! Wie kann mein Mann tot sein, wenn er gerade spricht! Das ist BBC, Herr Major! Ich habe den Krieg hindurch BBC gehört! Mein Mann war doch schon früher Radiosprecher! Ich kenne seine Stimme – die Stimme, die Sie jetzt hören!«

Der Russe hatte sich auf die Lippe gebissen. Nun sagte er: »Das sind diese Interviews mit Displaced Persons, nicht wahr?«

»Ja.« Valerie nickte. »Warum?«

»Die werden lange vor der Sendung hergestellt, Frau Steinfeld. Bedenken Sie, die einzelnen Interviews haben schon vor vielen Tagen stattgefunden, vielleicht vor zwei Wochen. Den Text zu dieser Sendung müßte Ihr Mann auch schon vor Tagen gesprochen haben … knapp vor seinem Tode …«

Danach schwieg Valerie, während Martin Landau stöhnend auf den Schaukelstuhl sank und eine Hand gegen sein Herz preßte.

Die Männerstimme aus dem Radio erklang: »… und wir werden ein neues Leben zusammen beginnen, ein schönes Leben in Frieden und ohne Bedrohung und Not …«

»Diese Sendungen werden vorher zusammengestellt?« fragte Valerie und sah den Russen starr an.

»Ja, Frau Steinfeld. Das sage ich doch. Auf Platten. Wir machen das genauso. Und Gordon White hat es mir erzählt, als wir über unsere verschiedenen Arten von Rundfunkpropaganda redeten. Glauben Sie es doch, bitte. Was Sie da hören, ist eine Aufnahme, die vor Tagen gemacht wurde, und wenn das die Stimme Ihres Mannes ist, dann wurde sie mindestens schon vor einer Woche gemacht.«

»Aber die anderen Sendungen, die ich gehört habe in den letzten Tagen … auch mit seiner Stimme …«