»Warum haben Sie es nicht getan?« rief Manuel, mit einem wilden Gefühl des Triumphes. Noch eine Minute, dachte er, noch eine Minute, und er bricht zusammen. »Warum nicht? Antworten Sie!«
»Hören Sie, ich darf mich nicht aufregen. Wenn ich mich aufrege, bekomme ich einen Anfall. Ich verlange, daß Sie …«
»Warum haben Sie das Gift nicht weggeworfen?«
»Ich konnte doch nicht …«
»Warum nicht?«
»Das ist eine Lade mit einem komplizierten Schloß. Valerie nahm den Schlüssel und gab ihn nie mehr her … Immerhin …«
Manuel flüsterte, Landau an den Jackenaufschlägen packend: »Wie hieß die Frau, die Valerie Steinfeld das Gift gab?«
»Die Frau …«
»Ja! Ja, die Frau! Der Name! Los! Nennen Sie ihn, oder, bei Gott, ich schlage ihnen alle Zähne ein!«
»Nicht … Sie tun mir weh …«
»Ich werde ihnen noch mehr weh tun! Der Name!«
»Der … Name …« Landau wand sich auf seinem Stuhl. Manuel hielt ihn an den Jackenaufschlägen fest. Der alte Mann atmete ganz kurz, die Lippen verfärbten sich. »Ich kann nicht … ich darf nicht …«
»Sie dürfen den Namen nicht nennen?« flüsterte Manuel, halb von Sinnen vor Wut, tief über Landau geneigt. Im nächsten Moment fühlte er sich an der Schulter gepackt. Er taumelte gegen den Schaukelstuhl. Vor ihm stand eine Frau im Persianermantel. Sie war so groß wie Manuel und schien sehr kräftig zu sein. Auf ihrem grauen Haar saß eine Pelzkappe, Persianer mit Nerz verbrämt. Auch der Mantel hatte einen Nerzkragen. Das faltenlose Gesicht dieser älteren Frau war von Kälte gerötet. Manuel sah ausdrucksvolle Augen und einen schmallippigen Mund.
»Sie verschwinden hier auf der Stelle, oder ich rufe die Polizei«, sagte die Frau. Auf ihrer Kappe und den Schultern des Mantels lag Schnee, der schmolz. Sie trug schwarze Wildlederstiefel. Ihre Stimme klang entschlossen, befehlsgewohnt und selbstsicher.
»Guten Abend, Frau Landau«, sagte Manuel. Das muß sie sein, die Schwester, dachte er. Hergott, nun ist es doch mißglückt.
»Raus!« sagte Ottilie Landau.
Ihr Bruder, in seinem Lehnstuhl, stöhnte: »Das ist Herr Aranda, Tilly.«
»Ich weiß«, sagte sie grimmig. »Gretl draußen hat mir gesagt, wie er heißt. Ich komme gerade zurecht, scheint mir. Los, verschwinden Sie!«
»Frau Landau, hier geht es um Mord. Ich wäre an Ihrer Stelle vorsichtiger.«
»Kümmern Sie sich nicht darum, was Sie an meiner Stelle wären. Haben Sie schon einmal von Bedrohung und Hausfriedensbruch gehört?« Sie nahm die Pelzkappe ab, stieß Manuel beiseite und trat an den Schreibtisch, wo sie den Hörer des Telefons hob. »Mein Bruder ist herzkrank. Sehen Sie ihn an. Wenn ihm etwas zustößt, sind Sie daran schuld.« Ottilie Landau begann zu wählen.
Das ist sinnlos, dachte Manuel. Ich kann keinen Ärger mit der Polizei brauchen. Und ich bekomme Ärger. Diese Frau ruft die Polizei. Diese Frau wird alles tun, um ihren Bruder zu schützen, hat es wohl schon immer getan.
»Legen Sie den Hörer hin«, sagte Manuel. Er drehte sich um und verließ das Teekammerl. Durch den kurzen Gang ging er in den Verkaufsraum hinaus. Die Angestellten starrten ihn an. Es waren keine Kunden mehr im Laden. Manuel öffnete die Eingangstür – die sanfte Melodie erklang –, trat in das Schneetreiben hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Wiederum ertönte das Glockenspiel. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch. Die Pelzkappe hatte er im Wagen liegenlassen. Mit unvermindertem Getöse rollte der Abendverkehr durch die Seilergasse. Manuel fluchte auf spanisch und ging los, die Schultern vorgeneigt. Er stemmte sich gegen die stoßweise einfallenden eiskalten Böen.
In dem kleinen Hinterzimmer saß Martin Landau bleich und zitternd in seinem Sessel. Tilly füllte ein Glas mit Wasser, entnahm einer Schachtel, die auf dem Schreibtisch lag, zwei kleine rote Pillen und hielt sie dem Bruder hin.
»Nimm das«, sagte sie, und jetzt klangen in ihrer Stimme Mitleid und Mütterlichkeit. »Trink einen Schluck.«
Er folgte, gehorsam wie ein kleines Kind. Etwas Wasser lief über sein Kinn. Tilly wischte es mit dem Taschentuch fort.
»Ich hatte solche Angst«, jammert er. »Ich dachte, jetzt und jetzt kriege ich meinen Anfall. Ich wußte nicht mehr richtig, was ich sagte. In meinem Schädel dröhnte es nur noch!«
»Du hast ihren Namen nicht verraten«, sagte sie und strich ihm über das schütter werdende Haar. »Er kann uns gar nichts anhaben. Gar nichts.«
»Du hast ihn nicht erlebt … Der gibt keine Ruhe …« Landaus Hände zitterten wieder. »Der nicht! Der bohrt und bohrt weiter. Oh, Tilly, warum habe ich damals nur nicht auf dich gehört? Du warst so dagegen …«
»Und wie!« meinte sie laut, voll Erbitterung.
»Aber dann hast du doch mitgemacht.«
»Es war unsere Pflicht. Wir mußten es tun, Martin. Doch ich sagte, erinnere dich selbst, es wird noch böse, böse Folgen haben.« Er nickte verzweifelt. Tilly sprach, während sie seinen Kopf wie den eines Sohnes gegen den Leib drückte: »Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können nichts rückgängig machen.« Sie streichelte ihn sanft, ihre Stimme wurde hart: »Laß doch den Lümmel bohren! Von uns erfährt er nicht, warum Valerie seinen Vater vergiftet hat. Das wissen wir nicht. Keinen Schimmer haben wir. Und wenn er noch hundertmal kommt! Und wenn sie alle noch hundertmal kommen! Nicht den allergeringsten Schimmer haben wir. Da können sie fragen, bis sie schwarz werden.«
»Ach, Tilly«, sagte der alte Mann weinerlich und legte einen Arm um ihre Hüfte. »Wenn ich dich nicht hätte, ich wäre verloren, vollkommen. Verloren? Tot wäre ich schon lange! Die hätten mich doch umgebracht, ganz bestimmt hätten die mich umgebracht, wenn du nicht gewesen wärst!«
20
»Herr Aranda, darf ich Sie bitten, mir zu folgen?«
Manuel hatte eben die strahlend erleuchtete Halle des ›Ritz‹ betreten, als auch schon ein Angestellter der Reception auf ihn zugeeilt war. In seinem Gesicht zuckte es. Er wirkte sehr bleich. Manuel, Schnee auf dem Mantel, Schnee im zerzausten Haar, noch voller Zorn auf die Geschwister Landau, musterte den Angestellten irritiert.
»Was ist jetzt wieder?«
»Nicht so laut, Herr Aranda. Ich bitte Sie, nicht so laut«, ächzte der Angestellte, während ein herbeigeeilter Page Manuel aus dem Mantel half und ihn zur Garderobe trug. Diesen Angestellten hatte Manuel schon ein paarmal gesehen, aber noch nie gesprochen. Ein zweiter Mann stand hinter der Theke. Er starrte Manuel an. Auch die Portiers starrten, alle drei. Ihre Gesichter waren sorgenvoll.
Die Eingangshalle lag fast leer da, die Halle dahinter war von Menschen erfüllt. Das kleine Orchester spielte gerade gefühlvoll und etwas zittrig ›Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami‹. Der Angestellte hatte Manuels Ellbogen ergriffen und schob mit sanfter Gewalt.
»Rühren Sie mich nicht an. Ich mag das nicht.«
»Herr Aranda, ich bitte herzlich! Der Herr Direktor erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer.«
Manuel zuckte die Schultern. Über die kostbaren Teppiche, mit denen die Halle ausgelegt war, an Marmorsäulen und wandfüllenden Gobelins vorbei, unter den Riesenlüstern, deren Gläser in allen Farben leuchteten, wanderte er neben dem Angestellten, einem jungen Mann mit Halbglatze, in den kurzen Gang hinter der Reception, welcher zum Zimmer des Direktors führte. Der Angestellte öffnete die äußere Hälfte einer Doppeltür und klopfte. Er öffnete die innere Hälfte und ließe Manuel in das Büro eintreten, das dieser schon kannte. Hinter dem antiken Schreibtisch erhob sich, weißhaarig und schlank, Graf Romath.
»Endlich!«
Der Angestellte verschwand, die Türen schlossen sich hinter ihm. »Seit dieses Haus steht, ist so etwas noch niemals vorgekommen, noch niemals! Wir sind in Ihrer Hand. Wenn Sie in begreiflicher Empörung nicht schweigen, ist unser Hotel erledigt!«
»Da haben Sie recht«, sagte der Hofrat Groll. Manuel drehte sich schnell um und fühlte neuerlich das widerwärtige Zerren des Schwindels. Der beleibte Kriminalist mit dem Silberhaar, der in einem brokatüberzogenen Sessel hinter der Tür gewartet hatte, stand nun auf. »Guten Abend, Herr Aranda. Ich habe mir schon die größten Sorgen um Sie gemacht. Wo waren Sie von heute vierzehn Uhr bis jetzt?«