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»… deren Schlüsselsatz ein Zitat ist, ich weiß. Das halten Sie für seine Schrift?«

»Unbedingt. Ich kenne diese verkehrt geschriebenen N’s, die Balken-H’s und die verkehrt geschriebenen M’s.«

»Wenn es sich auch noch um einen Zitatencode handelt, dann ist er unlösbar, fast mit Gewißheit unlösbar, solange man das Zitat nicht kennt.« Der Hofrat ließ eine weiße Kugel losrollen, diese traf die zweite weiße und kam auf die rote zurück.

Manuel blätterte unterdessen das Manuskript durch.

»Sechsunddreißig Seiten«, sagte er beklommen. »Eng beschrieben. Eine Riesenbotschaft. Er chiffrierte sehr schnell, mein Vater. Aber was sollen diese sechsunddreißig Seiten, diese Monsterarbeit?«

»Das, lieber Freund«, sagte der Hofrat, »ist das Geheimnis.«

»Was für ein Geheimnis?«

Groll räusperte sich, strich durch das silberne Haar und senkte die Stimme. »Ihr Vater«, sagte er, »war ein sehr vorsichtiger Mensch. Sie wissen jetzt schon so viel über Franzosen, Amerikaner und Russen – es war nicht zu vermeiden –, daß ich Sie weiter einweihen muß. Meine Freunde von der Staatspolizei werden das verstehen. Oder sie sollen mich gern haben. Hier geht es jetzt um Ihr Leben, um Ihre Sicherheit, Herr Aranda! Nach allem, was wir wissen – und wir wissen natürlich längst nicht alles –, hat Ihr Vater sich in Wien mit Franzosen, Russen und Amerikanern eingelassen, ohne Zweifel, um ihnen etwas zu verkaufen.«

»Was?«

Der Hofrat tippte auf das Manuskript.

»Das da?«

»Ja.«

»Aber weshalb liegt es dann noch hier – verschlüsselt?«

Groll hob eine Hand. »So, wie wir die Sache sehen, ist Ihr Vater mit den Amerikanern und den Russen handelseinig geworden. Die haben vermutlich bereits die Klarschrift dieses Manuskripts. Nur mit den Franzosen war es noch nicht soweit. Ihr Vater wollte sich absichern – hier die verschlüsselte Ware, hier Geld, hier der Dechiffrierschlüssel. So etwa.«

»Mein Vater war dann also sehr vorsichtig. Trotz allem nicht vorsichtig genug. Der Code hat ihn nicht davor beschützt, ermordet zu werden.«

»Nein.« Groll ließ andauernd Kugeln über den Tisch rollen. »Aber der Mord hat offensichtlich auch das Geschäft verhindert.«

»Das heißt, Sie glauben, daß der Mord von Amerikanern und Russen organisiert worden ist?«

»Ich glaube gar nichts. Ich denke jetzt nur an Sie, Herr Aranda. Nun haben Sie das Manuskript. Ich möchte nicht, daß auch Sie noch ermordet werden – von wem immer.«

»Aber Sie sagten doch, ich hätte jetzt Amerikaner und Russen auf meiner Seite – die stärkere Partei. Und deshalb sollte ich auch im ›Ritz‹ bleiben.«

»Ich habe gesagt, Sie hätten Amerikaner und Russen auf Ihrer Seite, wenn wir es geschickt anfangen«, erinnerte ihn Groll. »Das heißt nicht, daß diese Herren Ihre Freunde sind. Sie sind ebenso Ihre Todfeinde wie die Franzosen, davon bin ich überzeugt. Es wäre ihnen am liebsten, wenn Sie und dieses Manuskript verschwänden. Sie wollen, daß nichts an die Öffentlichkeit dringt. Es handelt sich – glauben Sie mir, Herr Aranda, wir haben auch unsere Leute, die ein wenig achtgeben auf das, was im Land passiert – um eine sehr wichtige, sehr böse und sehr gefährliche Sache.« Er setzte sich auf den Tischrand. »Und Sie sind nun das Rotkehlchen, das in ein fremdes Revier eingedrungen ist.«

»Was bin ich?«

Der Hofrat zuckte die Achseln.

»Konrad Lorenz, der große Naturwissenschaftler und Verhaltensforscher, er ist übrigens Wiener, hat einmal eine Geschichte erzählt – ich war dabei. Passen Sie auf. Lorenz sagte: Es gibt bestimmte auslösende Mechanismen. Das hat ein Engländer – warten Sie mal, ja, Lack hieß der – sehr hübsch demonstriert. Wenn in das Revier eines Rotkehlchens, eines Männchens, ein anderes Rotkehlchenmännchen eindringt, dann attackiert der revierbeherrschende Vogel den neuen.«

»Und?«

»Augenblick! Der Forscher nahm zuerst ein ausgestopftes Rotkehlchen und setzte es hin. Es wurde angegriffen! Dann wurde dem ausgestopften Vogel der Kopf abgedreht. Angegriffen! Dann schnitt Lack ihm die Beine weg. Angegriffen! Er zupfte den Schwanz aus. Angegriffen! Endlich war nur noch die rote Brust da. Angegriffen! Zum Schluß nahm Lack eine ziegelrote Pappscheibe von der Größe einer Rotkehlchenbrust. Und auch die wurde noch angegriffen! Sie allein genügte schon zum Signal ›Feind! Angriff!‹« Groll glitt wieder vom Tisch, zog die Heftklammer aus dem Manuskript und begann die ersten zehn Blätter nebeneinander auf das hell beleuchtete grüne Tuch zu legen. »Sie«, sagte er dazu, »sind, ohne es zu wollen, als Rechtsnachfolger Ihres Vaters, gleich in drei fremde Reviere eingedrungen. Sie sind es – Sie können nichts dagegen tun. Aus diesem Grunde wird man – wir verhalten uns genauso, ach, ganz genauso wie die Rotkehlchen – mit allen Mitteln versuchen, Sie zu vertreiben, auszuschalten, gleich, wie Sie sich benehmen, gleich, welche Konzessionen Sie machen. Sie haben jetzt den roten Fleck auf der Brust. Und Ihre Feinde werden nicht ruhen, bevor sie diesen roten Fleck – und wenn wir ihnen einen Ersatzfleck dafür bieten – beseitigt haben.« Während er sprach, hatte Groll eine kleine Minox-Kamera aus der Tasche gezogen und Seite um Seite fotografiert. Nach den ersten zehn Blättern nahm er die zweiten zehn. Er fotografierte sie alle. »Das muß zu unseren Spezialisten. Und zur Staatspolizei. Ich glaube nicht, daß wir den Code entziffern können. Aber ich habe eine Idee. Ich möchte wirklich nicht, daß Ihnen etwas zustößt. Es … es täte mir sehr leid.«

Sie sahen sich an. Der Blick hielt.

»Danke«, sagte Manuel zuletzt, während Groll dachte: Wenn ich einen Jungen hätte, könnte er so alt sein wie dieser da …

Als der Hofrat alle Blätter fotografiert hatte, ging er zu der großen Schiebetür des Billardzimnmers, öffnete sie und sah in das Café hinaus. Er nickte kurz. Gleich darauf kam ein trauriger junger Mann mit dunklem Anzug und Hornbrille in den Raum. Groll schloß die Tür hinter ihm und stellte vor. Der junge traurige Mann hieß Schäfer.

»Passen Sie einmal auf, Schäfer«, sagte der Hofrat.

24

Kurze Zeit später, um 19 Uhr 43, verließen der Hofrat Wolfgang Groll und Manuel Aranda das ›Ritz‹ durch den Vordereingang. Der Hofrat trug den schwarzen Diplomatenkoffer. Rechts und links von ihm und Manuel gingen zwei große, kräftige Männer, die Hände in den Taschen, dauernd nach allen Seiten Ausschau haltend. Die vier marschierten durch das dichte Schneetreiben und den fauchenden Ostwind, der ihnen Schneekristalle ins Gesicht peitschte, zu dem großen Wagen, der vor dem Portal parkte. Sie stiegen ein. Ein Mann setzte sich hinter das Steuer, startete, umkreiste das Hotel, kam auf den Ring zurück und lenkte den Wagen in Richtung Parlament. Die Fahrbahnen waren teilweise schon sehr verweht, Schneepflüge rollten durch die Straßen, Autos rutschten auf Eis und Neuschnee. Der Verkehr war noch stark, die Wagen schlichen vorsichtig dahin. Ein Beamter saß neben dem Fahrer, Manuel neben dem Hofrat im Fond. Groll hielt den kleinen Koffer nun auf den Knien. Gesprochen wurde lange Zeit kein Wort. Wie große Perlenschnüre glitten die Kugellampen vorüber, die zu beiden Seiten des Rings, unter tiefverschneiten Bäumen, brannten. Das Naturhistorische Museum, das große Denkmal der Kaiserin Maria Theresia, in Schnee versunken. Das Kunsthistorische Museum. Das Heldentor, der Eingang zur Hofburg …

»Sieht schön aus, nicht wahr?« sagte Groll.

Manuel nickte.

»Die eine Seite dieser Stadt. Die andere …« Groll brach ab. Er fragte den Fahrer: »Folgen sie uns?«

»Ja«, sagte der Mann. »Ein Chevrolet und ein Buick.«

»Gut«, sagte Groll. »Geben Sie acht, daß Sie die beiden nicht aus Versehen abhängen.«