»Ich passe schon auf.« Der Mann am Steuer bremste, denn die Lichtampel bei der Bellaria-Kreuzung sprang eben auf Gelb. Er wäre noch durchgekommen, aber die beiden Wagen, die ihn verfolgten, hätten halten müssen. Der Mann am Steuer sagte: »Sie haben stundenlang neben dem Hotel gewartet. Die Franzosen sitzen in dem Buick, ich habe einen von ihnen erkannt.«
»Dann fahren die anderen in dem Chevrolet«, sagte der Hofrat.
»Große, qualmende Scheiße«, sagte zur gleichen Zeit der Mann neben dem Fahrer des Buick in ein Handmikrophon. »Entschuldigen Sie, Chef. Aber es ist zum Kotzen. Wir sind jetzt bei der Bellaria. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, fahren sie mit dem Objekt ins Sicherheitsbüro.« Von krachenden Störungen unterbrochen kam Jean Merciers Stimme aus dem Lautsprecher des Buicks: »Verlieren Sie um Himmels willen den Wagen nicht, Nummer Fünf. Ich muß genau wissen, wo das Objekt landet …« Er sprach abgehackt, atemlos. Und während er sprach, drehte er mit einer langsamen, brutalen Bewegung dem scharlachroten Spielzeugfuchs, der für ein kleines Mädchen namens Janine in Casablanca bestimmt gewesen war, den Kopf ab. Mercier stand jetzt der Schweiß auf der Stirn. Die drei anderen Männer im Hinterzimmer des längst geschlossenen französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ sahen tief besorgt aus. Nun fuhren sie zusammen. Mercier hatte die Schnur abgerissen, die an dem kleinen Fuchs hing. Silberhell und lieblich war die Musikuhr in Gang geraten: ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen …‹
Das Licht der Ampel an der Bellaria wechselte auf Grün. Die Wagen fuhren weiter den Ring hinab, vorbei an dem tiefverschneiten Parlament. Die gelb leuchtenden Kandelaber vor dem festlich angestrahlten Burgtheater trugen hohe Schneehauben. Hinter dem Park gegenüber erhob sich, mächtig und breit, die ebenfalls angestrahlte Fassade des Rathauses. Dicht fielen jetzt die Flocken. Menschen bewegten sich so vorsichtig wie Autos und Straßenbahnen. Der Schnee dämpfte die Geräusche, es war unwirklich still inmitten all des Verkehrs. Der Wagen, in dem Manuel und Groll saßen, und die beiden Autos, die sie verfolgten, passierten die dunkle Universität und die Schottenringkreuzung und bogen alle drei nach links in die Währingerstraße ein.
Ein junger Mann in dem Chevrolet sprach russisch in ein Handmikrophon: »Ich rufe Lesskow … ich rufe Lesskow … Hier ist Gorki …«
Eine russische Stimme erklang aus dem Lautsprecher im Wagen: »Ich höre Sie, Gorki. Sprechen Sie!«
»Wir fahren jetzt die Währingerstraße hinauf, vermutlich zum Sicherheitsbüro. Der Koffer ist im Wagen.«
»Sehr gut«, sagte Fedor Santarin, Präsident der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹. Er saß, elegant gekleidet wie immer, neben Grant in einem nur mit besonderen Schlüsseln zu öffnenden Zimmer eines alten Barockpalais in der Wollzeile. Indirektes Licht schien warm und mild auf erlesene antike Möbel, edle Stiche an den Wänden mit den Seidentapeten, einen großen Teppich, der den ganzen Boden bedeckte, und einen modernen Kurzwellensender, der in eine der meterdicken Mauern eingebaut war.
Zwei dezent gekleidete Männer saßen an dem Metallkasten, einer vor dem Mikrophon.
»Bleiben Sie auf Empfang, Lesskow, bleiben Sie auf Empfang …« erklang die Lautsprecherstimme.
»Verstanden, Gorki«, sagte der Mann am Mikrophon.
»Nun«, sagte Santarin in englischer Sprache, »das funktioniert doch alles wundervoll, Gilbert, finden Sie nicht? Egal, wohin sie das Köfferchen bringen – die Franzosen bekommen es auf keinen Fall mehr. Und alles kann so weiterlaufen, wie wir es mit Nora Hill besprochen haben.«
»Unberufen!« Grant, der Ersatzteilhändler für amerikanische Autos, führte eine Hüftflasche zum Mund.
»Es ist natürlich ein großes Glück, daß Romath so ergeben für uns arbeitet«, fuhr Santarin fort, sorgsam ein Hosenbein hochziehend, um die Bügelfalte zu schonen. »Wir haben eigentlich, Heilige Mutter von Nowgorod, ich will mich nicht versündigen, nur tadellose Leute hier in Wien. Was für ein Segen, daß der Graf Romath kleine Jungen in den Hintern stößt. Zu kleine Jungen.«
»Und ihr habt etwas gegen Aristokraten!«
»Wieso? Tolstoi war auch ein Aristokrat. Und ein frommer Mann, wie ich!«
»Hallo, Lesskow, hallo, Lesskow, bitte kommen, hier ist Gorki.«
»Verstanden, Gorki. Was gibt’s?«
»Wir haben uns geirrt«, klang eine russische Männerstimme aus dem Lautsprecher des Senders. »Aranda und der Hofrat fahren nicht zum Sicherheitsbüro. Sie sind bei der Nußdorfer Straße rechts eingebogen und fahren jetzt hinauf in Richtung Döbling, Sievering und die westlichen Vororte!«
25
Zu dieser Zeit verließ ein ernster Mann von etwa dreißig Jahren das Kaffeehaus des Hotels ›Ritz‹ und ging, den Hut in die Stirn gedrückt, den Mantelkragen hochgeschlagen, den Ring bis zur Oper hinauf, wo er in die Kärntnerstraße einbog. Durch das dichte Schneetreiben sah er eine Flut bunter Lichtreklamen funkeln. Der stets so traurige, hochbegabte und bei allen Kollegen im Sicherheitsbüro wohlgelittene Inspektor Ulrich Schäfer hatte eine junge Frau, die von Multipler Sklerose, einer unheilbaren Krankheit, befallen war und dem Tod entgegensiechte. Darum war Schäfer stets traurig.
Hinter ihm gingen in Abständen vier Männer auf beiden Seiten der Straße. Sie gehörten zu Schäfers Gruppe und ließen ihn nicht eine Sekunde aus den Augen.
Der Mann mit der todkranken Frau erreichte den Stock im Eisen am Stephansplatz und bog nach links in den Graben ein. Durch das diffuse Licht der vielen Lampen und des fallenden Schnees sah er die hohe Silhouette der Pestsäule vor sich. Menschen hasteten an ihm vorbei. Seine Bewacher folgten eilig.
Schäfer ging an der grell erleuchteten Auslage des Juweliers Heldwein vorüber, in der Brillanten funkelten und Gold und Edelsteine strahlten. Carlas Vater war auch Juwelier, dachte Schäfer traurig. Nach dem Tod seiner Frau verkaufte er das Geschäft und starb als wohlhabender Mann. Sein Vermögen wurde nun von Carlas Krankheit verschlungen. Das Sanatorium in Baden bei Wien, wo Carla lag, kostete Unsummen. Noch war Geld vorhanden, aber es würde nicht ewig reichen, nicht einmal mehr sehr lange.
Die Multiple Sklerose ist eine furchtbare Krankheit. Es kann Jahre dauern, bis ihr Opfer tot ist. Sie bringt ihre Opfer fast immer um, aber sie läßt sich entsetzlich Zeit damit. Was, wenn Carla länger lebt, als das Geld reicht? dachte der Inspektor Schäfer unglücklich.
Er bog in den Kohlmarkt ein und ging ihn bis zur halben Höhe empor. Auf der anderen Seite sah er die bereits geschlossene berühmte Konditorei Demel, in der Fedor Santarin Stammkunde war. Schäfers Bewacher blieben zurück. Er erreichte ein altes Haus, von der Zeit geschwärzt, mit einem großen grünen Tor, in das eine kleinere, offene Tür eingelassen war. Rechts vom Eingang befand sich ein Antiquitätenladen, links ein Wäschegeschäft. Über dem Portal las Schäfer etwas von einem ›Kaiserlich-Königlichen Hemdenmacher‹. Er trat in die breite Einfahrt des uralten Hauses, in der es kalt war und nach Rauch roch. Schnell ging er über Katzenkopfpflaster zum hinteren Ende der Einfahrt, wo ein ebensolches Tor den Weg in einen Innenhof versperrte. Rechts und links begannen hier Aufgänge, schmale, ausgetretene Stein-Wendeltreppen. An den Wänden waren Tafeln mit Namen von Firmen, Ärzten und Anwälten befestigt. Schäfer benutzte den linken Aufgang und stieg bis zum zweiten Stock empor, wobei er, wie in vielen Wiener Häusern, an Treppenabsätzen mit den Aufschriften HOCHPARTERRE und MEZZANIN, Zwischenstockwerken also, vorüberkam.
Endlich stand er an einer Tür, die außer dem normalen noch ein Yale-Schloß und eine Messingtafel besaß. Diese besagte, daß sich hier die Kanzlei von Dr. Rudolf Stein und Dr. Heinrich Weber, Rechtsanwälten, befand.
Schäfer klingelte dreimal kurz, zweimal lang, dann noch einmal kurz. Sogleich kamen von der anderen Seite der Tür Schritte näher. Eine Männerstimme fragte: »Wer ist da?«
»Inspektor Schäfer.«
»Werfen Sie Ihren Dienstausweis in den Briefkasten.«
Schäfer tat es.