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Alles, was wir tun oder sagen, alles, was wir denken oder fühlen, trägt ein und dieselbe Maske und ein und dasselbe Kostüm. Sosehr wir auch ablegen, was wir tragen, wir gelangen nie zur Nacktheit, denn die Nacktheit ist ein Phänomen der Seele und nicht des Kleiderablegens. Und so, an Körper und Seele bekleidet, in unseren vielfältigen Kostümen, mit uns verwachsen wie Federn mit einem Vogel, leben wir glücklich oder unglücklich oder auch nicht einmal wissend, was wir sind, den kurzen Zeitraum, der uns von den Göttern gegeben, damit sie sich an uns ergötzen wie an ernsthaft spielenden Kindern.

Der eine oder andere von uns sieht plötzlich – und selbst er nur selten – in einem Akt der Befreiung oder unter der Last eines Fluchs, daß alles, was wir sind, wir nicht sind, daß wir uns in dem täuschen, dessen wir uns sicher sind, und in dem irren, was wir für richtig halten. Und dieser eine, der für einen kurzen Augenblick das Universum nackt sieht, ersinnt eine Philosophie oder erträumt eine Religion; die Philosophie breitet sich aus, und auch die Religion, und wer an die Philosophie glaubt, beginnt, sich ihrer wie einer Kleidung zu bedienen, die er bald nicht mehr sieht, und wer an die Religion glaubt, beginnt sie wie eine Maske zu tragen, die er bald vergißt.

Und weder uns noch die anderen kennend und daher fröhlich einander verstehend, wirbeln wir weiter im Tanz und unterhalten uns während der Pausen menschlich, nichtig und ernsthaft zum Klang des großen Sternen-Orchesters, unter den verächtlich abweisenden Blicken der Veranstalter dieses Spektakels.

Sie allein wissen, daß wir Gefangene der Illusion sind, die sie für uns schufen. Den Grund aber für diese Illusion und warum diese oder jene Illusion besteht und warum sie, ebenfalls Illusionen unterworfen, uns die Illusion vermittelten, die sie uns vermittelten – das wissen zweifellos selbst sie nicht.

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Ich habe stets einen fast körperlichen Widerwillen vor dem Geheimnisvollen verspürt – vor Intrigen, Diplomatie, Geheimgesellschaften und Okkultismus. Insbesondere verärgern mich die beiden letztgenannten Dinge, die Anmaßung gewisser Menschen, die vermeinen, sie und nur sie allein kennten, dank ihres Einvernehmens mit Göttern, Meistern oder Demiurgen, die großen Geheimnisse, das Fundament der Welt.

Ich kann nicht glauben, daß dem so ist, wohl aber, daß jemand dies glaubt. Warum sollten diese Herrschaften nicht alle verrückt oder einer Täuschung verfallen sein? Weil es ihrer viele sind? Schließlich gibt es auch kollektive Halluzinationen.

An diesen Meistern und Kennern des Unsichtbaren erstaunt mich vor allem, daß sie, greifen sie zur Feder, um uns ihre Geheimnisse mitzuteilen oder zu vermitteln, allesamt schlecht schreiben. Ich will nicht so recht verstehen, daß ein Mensch den Teufel beherrschen kann, nicht aber die portugiesische Sprache. Warum sollte der Umgang mit dem Dämon leichter sein als der Umgang mit der Grammatik? Wer durch eine lange Schulung seiner Aufmerksamkeit und seiner Willenskraft, wie er sagt, Astralvisionen haben kann, wie kann ein solcher Mensch nicht mit wesentlich weniger Aufwand syntaktische Visionen haben? Was an Dogma und Ritual der hohen Magie hindert jemanden zu schreiben, ich sage nicht einmal klar zu schreiben, da Unklarheit vielleicht zum Gesetz des Okkulten gehört, doch zumindest elegant und fließend, was im Bereich des Abstrusen durchaus möglich ist. Warum die gesamte seelische Energie auf das Studium der Sprache der Götter verschwenden und nicht ein Quentchen aufsparen, mit dem man Farbe und Rhythmus der menschlichen Sprache studieren kann?

Ich mißtraue den Meistern, die sich nicht einmal auf die einfachsten Dinge verstehen. Sie sind für mich wie jene befremdlichen Dichter, die außerstande sind, wie jedermann zu schreiben. Ich gestehe ihnen ihre Befremdlichkeit zu; doch wäre es mir lieb, sie könnten mir beweisen, daß sie befremdlich sind, weil den normalen Menschen überlegen und nicht etwa unterlegen sind.

Es heißt, schon so mancher große Mathematiker habe sich beim Zusammenzählen geirrt; doch hier geht es nicht um Irrtum, sondern um Unkenntnis. Hält ein großer Mathematiker zwei und zwei für fünf, ist das ein Zeichen von Zerstreutheit, wie wir sie alle kennen. Jedoch will mir nicht einleuchten, daß er nicht weiß, was Zusammenzählen ist, oder wie man zusammenzählt. Und das genau ist bei den Meistern des Okkulten in übergroßer Mehrzahl der Fall.

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Denken kann erhebend, muß jedoch nicht elegant sein, je mehr es ihm aber an Eleganz fehlt, desto mehr verliert es seine Wirkung auf andere. Kraft ohne Geschick ist bloße Masse.

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Die Füße Christi berührt zu haben ist keine Entschuldigung für eine fehlerhafte Interpunktion.

Kann jemand nur in betrunkenem Zustand gut schreiben, sage ich zu ihm: Betrinken Sie sich. Und entgegnet er mir dann, das sei schlecht für seine Leber, frage ich ihn: Was ist Ihre Leber? Sie ist etwas Totes, das lebt, solange Sie leben, und die Gedichte, die Sie schreiben, leben ohne dieses Solange.

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Ich formuliere gern. Besser gesagt: Ich mache gern Worte. Worte sind für mich berührbare Leiber, sichtbare Sirenen, verkörperte Sinnlichkeit. Vielleicht, weil wirkliche Sinnlichkeit für mich keinerlei Interesse besitzt – nicht einmal ein geistiges, nicht einmal im Traum –, ist mein Verlangen zu dem geworden, was in mir Wortrhythmen schafft oder sie bei anderen hört. Ich erschaudere, wenn jemand gut formuliert. So manche Seite von Fialho[45]  , so manche von Chateaubriand erfüllt meine Adern mit prickelndem Leben, versetzt mich vor unvergleichlichem Vergnügen in einen still schaudernden Furor. Selbst die eine oder andere Seite von Vieira läßt mich mit der kalten Vollkommenheit ihres syntaktischen Entwurfs erzittern wie ein Zweig im Wind, im passiven Delirium eines bewegten Dinges.

Wie alle wirklich leidenschaftlichen Menschen liebe ich die Selbstaufgabe mit ihrem ganzen sich lust- und leidvollen Hingeben. Und so schreibe ich oft, ohne überhaupt denken zu wollen, in einer Art Tagträumerei und lasse mich dabei von den Worten streicheln wie ein kleines Mädchen auf ihrem Schoß. Sie bilden Sätze ohne Sinn, fließen weich dahin wie fühlbares Wasser, ein selbstvergessener Fluß, dessen Wellen sich vermischen und vergehen, andere und immer andere werden und einander folgen. So ziehen Ideen und Bilder, vibrierend vor Ausdruckskraft, durch mich hindurch in einem klingenden Gefolge verblaßter Seide, auf der wie Mondlicht ein Gedanke schimmert, gesprenkelt und unklar.

Nichts, was das Leben bringt oder nimmt, entlockt mir eine Träne. Die eine oder andere Prosaseite hingegen hat es vermocht. Ich erinnere mich, sehe ihn vor mir, jenen Abend, als ich, noch ein Knabe, zum ersten Mal in einer Anthologie die berühmte Passage Vieiras über König Salomon las. »Es erbaute Salomon einen Palast …« Ich las weiter, zu Ende, zitternd und verwirrt, brach dann in glückliche Tränen aus, wie kein wirkliches Glück sie mir je entlocken könnte, wie kein Kümmernis des Lebens sie mich jemals weinen lassen wird. Diese hieratische Bewegung unserer klaren majestätischen Sprache, dieses Kleiden der Gedanken in unumgängliche Worte, wie Wasser, das fließt, weil es einem Gefälle folgt, dieses Vokalwunder, dessen Klänge ideale Farben sind – all das packte mich instinktiv wie eine große politische Leidenschaft. Und wie gesagt, ich weinte; und erinnere ich mich, weine ich heute noch. Doch nicht aus Sehnsucht nach der Kindheit, nach der ich keine Sehnsucht verspüre, sondern aus Sehnsucht nach den Gefühlen jenes Augenblicks, aus Kummer, diese große symphonische Gewißheit nicht mehr zum ersten Mal lesen zu können.