»Ihr solltet froh sein, dass die Tiere zurück sind«, verkündete sie. »Ihr wart so lange von ihnen abgeschnitten, dass ihr vergessen habt, wie großartig sie sind. Sie sind unsere horizontalen Geschwister, zur Fleischerzeugung versklavt, und wenn ihnen so etwas zustoßen kann, dann kann es euch auch zustoßen, und das ist es auch. Ihr seid Fleisch! Stinkendes Fleisch!«
Worte, die mit Pfiffen und einem unschönen Brummen aufgenommen wurden.
»Irgendwann müsst ihr es mal kapieren!«, rief Swan dann laut, um die zahlreichen Einwände zu übertönen, die den Raum erfüllten. »Niemand kann glücklich sein, solange nicht alle sicher sind!«
»Glücklich«, sagte einer der Leute mit hohntriefender Stimme. »Was heißt hier glücklich? Wir brauchen Nahrung. Die Farmen im Norden versorgen uns mit Nahrung.«
»Ihr braucht Boden«, erwiderte Swan, wobei sie das letzte Wort dehnte. »Bo-den ist eure Nahrung. Die Gesamtmenge an Biomasse ist eure Nahrung! Die Tiere helfen bei der Erzeugung von Biomasse. Ohne sie kommt ihr nicht aus. Ihr kommt gerade so über die Runden, indem ihr Öl esst. Ihr esst euer Saatgetreide. Wenn kein Essen über die Aufzüge zu euch herunterkäme, dann würde die Hälfte von euch verhungern und die andere Hälfte einander gegenseitig umbringen. Das ist die Wahrheit, und das wisst ihr auch! Was braucht ihr also? Tiere.«
»Die können gerne meinen Pflug ziehen«, sagte einer missmutig. Die meisten dieser Leute sprachen untereinander Russisch, und Wahram versuchte angestrengt, englische Gespräche herauszuhören. Mit Swan redeten sie auf Englisch. Sie fing gerade wieder von den horizontalen Geschwistern an. Viele ihrer Zuhörer hatten schon so viel Wodka und andere Substanzen intus, dass ihre Augen glänzten und ihre Wangen rot leuchteten. Sie stritten gerne mit Swan; sie hatten Spaß an der verbalen Abreibung. Zweifellos hatten diese Leute um 1905 genauso ausgesehen, oder um 1789, oder um 1776. Dieser Raum hätte sich überall befinden können, zu jeder Zeit. Wahram erinnerte er an die Eckkneipe in seinem Viertel auf dem Wulst.
»Wir sind Teil einer Familie«, erklärte Swan derweil und wurde mit einem Mal rührselig. »Der Säugetierfamilie.«
»Säugetiere sind eine Ordnung«, wandte jemand ein.
»Säugetiere sind eine Klasse«, korrigierte ihn jemand anders.
»Wir sind die Klasse der Säugetiere«, rief Swan aus, »und für uns ist es in Ordnung, zu saugen und einander liebzuhaben!« Jubel ertönte. »Oder zu sterben. Unsere horizontalen Brüder und Schwestern. Wir brauchen sie, wir brauchen sie alle, wir sind ein Teil von ihnen, und sie sind ein Teil von uns! Ohne sie sind wir nichts als … als …«
»Ein armer gespaltener Rettich!«
»Gehirne und Fingerspitzen!«
»Würmer in Flaschen!«
»Ja!«, sagte Swan, »genau.«
»Wie Raumer in ihren Anzügen«, fügte jemand hinzu.
Darüber lachten alle, auch Swan. »Das stimmt«, rief sie. »Aber hier sind wir! Im Moment bin ich auf der Erde.« Ihre Wangen glühten, und sie warf einen Blick in die Runde; dann stellte sie sich auf eine Bank und fuhr fort: »Wir sind auf der Erde! Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, was für ein Glück ihr habt! Ihr Scheißmaulwürfe! Ihr seid zu Hause! All die Raumerhabitate zusammengenommen sind trotzdem nicht mit dieser Welt vergleichbar! Das hier ist unser Zuhause.«
Jubeln. Allerdings fand Wahram, der Swan auffing, als sie von ihrer Bank Richtung Theke fiel, dass ihre Worte eigentlich nicht stimmten, nicht mehr – nicht mit dem Mars dort oben, und der Venus und dem Titan, die sich ihm hinzugesellten. Vielleicht stimmten sie schon seit der Diaspora nicht mehr. Also jubelten die Leute ihr dafür zu, dass sie unrecht hatte, dass sie ihnen schmeichelte, dass sie ihnen Drinks kaufte und sie in einem Moment der Begeisterung mitriss. Sie bejubelten diesen Augenblick, unabhängig von allem anderen. Ein Abend in einer Kneipe in Ottawa, mit Betrunkenen, die auf Russisch sangen. Diesen Augenblick des Sturms.
Sie besorgten sich Visa, für den Fall, dass die kanadische Polizei sie erneut festnahm, und schlossen sich wieder den Treibern an, die die wandernden Karibus verfolgten. In Yellowknife hielt sie niemand auf, und niemand, mit dem sie sprachen, wusste, was beim letzten Mal los gewesen war. Nach ein paar Tagen fanden sie wieder in ihre Feldroutine zurück, was Wahram glücklich machte. Er war das Laufen inzwischen gewohnt, hatte seinen Leibhalter darauf eingestellt und fand eine Menge Freude daran, Swan bei der Jagd zuzusehen. Sie lief immer voraus, aber sie sah auch von hinten gut aus. Diana auf der Jagd.
Abends im Essenszelt hörten sie immer öfter von weltweiten Berichten darüber, dass der Umgang mit den wiederaufgetauchten Tieren den Menschen Schwierigkeiten bereitete. Löwen und Tiger und Bären, liebe Güte! Die Leute waren nicht daran gewöhnt, potenzielle Beute für große Raubtiere zu sein, die direkt am Stadtrand lauerten. Es war Grund genug, die Reihen enger zu schließen. Wer sonst alleine draußen unterwegs war, suchte sich nun Gesellschaft. Einige von denen, die das nicht taten, wurden gefressen, und die Übrigen gruselten sich und jammerten und suchten sich Freunde oder Fremde, mit denen sie sich nicht nur für nächtliche Spaziergänge, sondern auch am helllichten Tag zusammentun konnten. In den Terrarien war das ohnehin üblich; allein rauszugehen war ein Luxus, eine Form von Dekadenz – oder ein Abenteuer, das man im Bewusstsein des bestehenden Risikos unternahm, wie Swan es tat. Für diejenigen, die damit aufgewachsen waren, verstand es sich von selbst, aber für alle anderen war es beklemmend: Draußen im Wald mussten die Menschen zusammenbleiben.
Schnell lernten auch die Tiere, wie gefährlich Menschen waren. Tatsächlich starben bei den neuartigen Begegnungen sehr viel mehr Tiere als Menschen, was niemanden überraschte. Aber die Saat war robust, und sie würde überleben.
Eines Morgens gingen sie zu zweit mit einer zusätzlichen Ausrüstungstasche los, weil Swan so weit wollte, dass sie es am Abend nicht zurück zum Essenszelt schaffen würden. Die Karibus hatten sich an den Ufern des Thelon River versammelt, an einer Furt, die sie noch nicht kannten, und Swan wollte sie umrunden und sich ihnen von Norden annähern, um die Tiere zu beobachten und sie davon abzuhalten, auf der Suche nach einem besseren Übergang durch die seichten Gewässer des Westufers nordwärts zu ziehen; sie waren bereits an der besten Stelle, die laut Aussage von Archäologen auch früher von Karibus benutzt worden war.
Also gingen sie Richtung Norden. Nach einer Weile trafen sie auf die Spur der Karibus. Hier war der Boden zu einem Meer chaotischer brauner Furchen aufgewühlt; jeder einzelne Schritt wollte wohlüberlegt sein. Swan, die ohnehin schon schneller als Wahram war, ließ ihn hier noch weiter hinter sich, aber er war fest entschlossen, sich nicht hetzen zu lassen. Hier und da machte ein totes Karibu ihm klar, wie recht er damit hatte: Stürze konnten gefährlich sein. Wahram bekam es mit kniehohen Klumpen halbgefrorenen Schlamms zu tun, die ihn nervös machten. Er konnte kaum mit ansehen, wie Swan einfach über sie hinwegsetzte. Aber sie tat keinen einzigen Fehltritt; und er musste den Blick auf seine Füße gesenkt halten. Es kam nicht darauf an, wie groß ihr Vorsprung wurde.