Als sie den unbeschädigten Boden nördlich der Spur erreichten, führte Swan ihn weiter Richtung Osten. »Schau mal«, sagte sie mit ausgestrecktem Finger. »Wölfe. Sie warten ab, wie die Flussüberquerung läuft.«
Wahram hatte bereits bemerkt, dass Swan Wölfe liebte, weshalb er kein Wort über den blutdurstigen Charakter dieser Fleischfresser verlor. Essen mussten sie schließlich alle.
Die Karibus hatten sich am diesseitigen Ende der Furt versammelt, etwa einen halben Kilometer entfernt. Swan wollte, dass die Tiere sie sahen, weshalb sie auf einen kleinen Vorsprung stieg, von dem aus man das Flussbett überblicken konnte. Es handelte sich um ein breites, ausgewaschenes Kiesbecken, das von kleineren Strömen durchwoben war; ein Irrgarten aus rundgewaschenen Felsbrocken und gewundenen, ausgetrockneten schwarzen Nebenarmen. An vielen Stellen war dieser Untergrund für die Karibus nicht sicher, und Wahram verstand, warum Swan wollte, dass sie den Fluss an der Furt überquerten, wo fester Permafrostboden auf beiden Seiten eine ebene, braungrüne Straße bildete.
»Sieh nur, die Ersten versuchen es.«
Wahram trat an ihre Seite und blickte nach Süden. Hunderte von Karibus hatten sich am diesseitigen Flussufer versammelt, reckten die Geweihe empor und röhrten. Die großen Männchen ganz vorne wagten sich mit den Vorderbeinen ins Wasser, stippten die Hufe vorsichtig hinein, und dann lief eines der Tiere los, sogleich gefolgt von mehreren anderen. Erst ging ihnen das Wasser bis zu den Knien, und dann mit einem Mal bis zur Brust. Der Fluss vor ihnen schwappte und wogte.
»Oh-oh«, sagte Swan. »Dort ist es tief.«
Aber die Anführer liefen oder schwammen beharrlich weiter, und schon bald erhoben sie sich wieder aus knietiefem Wasser, das unter ihren Tritten aufschäumte. Am gegenüberliegenden Ufer drehten sie sich um und röhrten. Inzwischen waren bereits weitere Karibus im Wasser, und nun begann die gesamte Masse, sich langsam vorwärtszubewegen. Der Strom der Tiere verengte sich, als die an den Seiten versuchten, weiter in die Mitte zu gelangen. Wahram erkannte, dass sie dicht zusammenbleiben wollten. »Probleme wird es vor allem dort geben, wo es tief wird«, prophezeite Swan, und so kam es auch; als die Tiere den Boden unter den Füßen verloren, röhrten einige und versuchten umzukehren, doch sie wurden geschoben und mit den Geweihen gestoßen, bis sie schließlich weitergingen; aber dadurch musste die Masse im seichteren Wasser sich noch dichter zusammendrängen. Das allseitige Röhren übertönte das laute Tosen des Flusses, der durch sein endloses Felsbecken rauschte. Einige Tiere an der linken Flanke drehten ab und machten sich auf den Weg nach Norden, aber Swan sprang auf und ab und wedelte mit den Armen, und Wahram nahm eine kleine Tröte von ihr entgegen und drückte ein paarmal darauf. Der Ton, den er ihr entlockte, war hoch und warnend, aber Wahram vermutete, dass es Swans wilde Bewegungen waren, die die Tiere schließlich zum Umkehren veranlassten. Inzwischen hatten die ineinander verkeilten Tiere dort, wo das Wasser tiefer wurde, zu schwimmen begonnen. Bald war der Vorfall mit den Ausreißern vergessen, und die gesamte Herde überquerte in einem Tosen von weißen Wassern und dampfenden braunen Leibern kraftvoll den Strom. Das Ganze dauerte fast eine Stunde. Es gab ein paar Unfälle, ein paar gebrochene Gliedmaßen, und einige Tiere ertranken sogar, aber die Herde hielt nicht mehr ein einziges Mal inne.
Swan sah genau zu, zeigte auf eine Front von Wölfen, die am Ufer flussabwärts Stellung bezogen hatte, sich mit den Zähnen ertrunkene Karibukälber schnappte und sie gemeinsam aus dem Wasser zog. Ab dort war der Fluss von roten Schlieren durchzogen.
»Werden die Wölfe ihn auch überqueren?«, fragte Wahram.
»Ich weiß nicht. In den Terrarien haben sie das oft gemacht, aber dort sind die Flüsse nicht so groß. Du weißt schon – man sieht so etwas in einem Terrarium, und dort ist es toll, aber hier ist es anders. Ich frage mich, ob sie sich dasselbe denken. Ich meine, sie haben das schon oft gemacht, aber über sich haben sie dabei immer das Land gesehen. Sie waren noch nie unter freiem Himmel. Ich frage mich, was sie vom Himmel halten! Fragst du dich das nicht?«
»Hmm«, machte Wahram nachdenklich. Selbst für ihn war der Anblick des terranischen Himmels etwas zutiefst Befremdliches. »Es sieht sicher seltsam für sie aus. Zweifellos haben sie ein Gefühl für räumliche Verhältnisse, immerhin handelt es sich um Wandertiere. Sie wandern in den Terrarien. Also muss ihnen auffallen, dass es hier anders ist. Von der Innenseite eines Zylinders auf die Außenseite einer Kugel – nein, wenn sie das spüren …« Er schüttelte den Kopf.
»Ich finde, sie wirken panischer als sonst. Wilder.«
»Mag sein. Wie kommen wir selbst über den Fluss?«
»Wir schwimmen. Nein, natürlich nicht. Unsere Aerogele fungieren als Flöße, wir können uns also hinübertreiben lassen. Wenn wir Glück haben!«
Sie führte ihn zur Furt hinab, wo der Geruch der Karibus in der Luft hing und Fellfetzen im seichten Wasser dümpelten. Der Wind fuhr Wahram durch den Leib, und er spürte seine Lungen wie kalte Höhlungen in seinem Brustkorb, pulsierend und lebendig. »Komm«, sagte sie, »Wir müssen hier verschwinden, bevor die Wölfe auftauchen, um mit den armen toten Kinderchen aufzuräumen.«
»In Ordnung, wenn du mir zeigst, wie.«
»Deine Matratze dient dir als Floß. Wir haben jeder eine. Es handelt sich um eine Art Barke aus Aerogel, weshalb sie kaum sichtbar ist, aber man kann sich gut auf ihr treiben lassen. Falls du kenterst, musst du dich daran festhalten oder sehr schnell schwimmen.«
»Ich hoffe, dass ich nicht kentere.«
»Das kann ich mir vorstellen! Das Wasser hier ist eiskalt. Hier, mit dem Ast kannst du paddeln. Ich glaube, man muss so weit rausgehen, wie man sich traut, und dann einsteigen und sich stromabwärts treiben lassen und wenn möglich Richtung gegenüberliegendes Ufer paddeln. Wir müssen uns kein bisschen beeilen, weil die erste Flussbiegung stromabwärts uns ohnehin näher ans andere Ufer bringt. Folge mir einfach, du wirst schon sehen.«
Also tat er das; doch seine Barke hüpfte auf dem Wasser auf und ab, sein Floß kam ihm zu klein vor, und an der tiefsten Stelle trug ihn die Strömung an Swan vorbei, die ihn auslachte. Er paddelte angestrengt. Sie holte zu ihm auf, paddelte im Kreis und rief ihm zu: »Halt deinen Kopf unter Wasser!«
»Nein!«, rief er empört zurück, aber sie lachte und erwiderte: »Halte wenigstens ein Ohr unter Wasser, du musst das hören! Hör dir mal an, wie es unter Wasser klingt!«
Damit beugte sie sich aus ihrer Barke und tauchte für ein paar Sekunden den Kopf unter, ehe sie wieder auftauchte, laut prustend und lachend. »Probier es aus!«, befahl sie ihm. »Das musst du einfach hören!«
Also beugte er sich zögerlich vor, streckte das rechte Ohr ins wirbelnde Wasser und hielt den Atem an. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er in ein lautes, elektrisches Knistern eingetaucht war, das ganz anders klang als alles, was er je zuvor in seinem Leben gehört hatte. Er zog sein Ohr wieder heraus, hörte das Rauschen der Welt und steckte dann seinen ganzen Kopf unter Wasser, hielt den Atem an und lauschte mit beiden Ohren dem elektrischen Knacken und Knistern. Es handelte sich wahrscheinlich um das Geräusch der Kiesel, die von der schnellen Strömung getrieben durchs Flussbett rollten.
Wahram zog den Kopf heraus und prustete wie ein Walross. Swan lachte ihm zu und schüttelte sich wie ein Hund. »Das nenne ich Musik!«, rief sie. Und dann schrammte Wahrams Barke über das seichte Ende am anderen Flussufer. Er sprang heraus, stolperte dabei jedoch und fiel hin. Mit Mühe und Not bekam er das kleine Floß zu fassen, kam planschend auf die Beine und watete an Land. Kein bisschen elegant, aber er lebte noch, und sein Ganzkörperanzug hielt ihn warm und trocken – das war Überlegenheit durch Technik. Damit waren sie am anderen Ufer.
Swan entdeckte eine Anhöhe beim Fluss, und sie schlugen ihr Zelt kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf. Es handelte sich um eine einteilige, große durchsichtige Hülle, die elastisch über ebenfalls durchsichtige Zeltstangen gespannt war. Ihre Flöße dienten ihnen als Betten. Sie saßen draußen vor dem Zelteingang, und Swan kochte ihnen erst eine Suppe aus irgendeinem Pulver und anschließend Pasta mit Pesto und Gorgonzolasoße. Zum Nachtisch gab es dann noch Schokolade und eine kleine Flasche Cognac.