Inspektor Genette übernahm: »Wir erkennen deutliche Anzeichen dafür, dass die Qubes sich selbst programmieren. Wohin das geführt hat, lässt sich nur schwer sagen. Aber wir machen uns Sorgen, denn die Qubes haben nicht unsere Gehirnarchitektur und -chemie, die uns auf unsere spezielle Art denken lässt. Wir denken sehr emotional. Unsere Emotionen sind entscheidend für unsere Entscheidungsprozesse, für unser langfristiges Denken, unsere Erinnerungen – für unsere gesamte Sinnstiftung. Ohne diese Eigenschaften wären wir keine Menschen. Wir könnten anders nicht als Individuen in Gruppen funktionieren. Aber die Qubes haben keine Gefühle, sie denken allerdings auf der Grundlage unterschiedlicher Architekturen, Protokolle und physikalischer Methoden. Somit haben sie Mentalitäten, die nicht einmal ansatzweise menschlich sind, selbst wenn sie in gewisser Weise über Bewusstsein verfügen. Und wir können uns nicht mal sicher sein, dass sie einander in der Art und Weise, in der sie in diesen neuen Zustand eingetreten sind, ähneln. Wir wissen nicht, ob sie in mathematischen oder logischen Begrifflichkeiten denken oder in einer Sprache wie Englisch oder Chinesisch. Oder ob verschiedene Qubes nicht auch in dieser Hinsicht verschieden sind.«
Swan nickte nachdenklich. Wenn die albernen Mädchen tatsächlich Qubes gewesen waren – und die Person, mit der sie Bowls gespielt hatte, ebenfalls –, dann war das allein schon in Sachen Morphologie ziemlich erstaunlich. Was die Denkprozesse betraf, überraschte sie nichts von alledem besonders. »Mit Pauline rede ich ständig über diese Fragen«, erklärte sie den Versammelten. »Aber was für mich deutlich aus diesen Gesprächen hervorgeht, ist, wie sehr die mentalen Leerstellen, von denen du sprichst, die Qubes behindern. Vielleicht liegt es an dem Mangel an Gefühlen. Es gibt so viel, wozu sie nicht in der Lage sind.«
»Den Eindruck hatten wir bisher auch«, sagte Wahram nach kurzem Schweigen. »Aber jetzt sieht es so aus, als würden sie ihre eigenen Ziele entwickeln. Vielleicht sind da gewisse Pseudo-Emotionen am Werk; wir wissen es nicht. Wahrscheinlich sind sie trotzdem nicht besonders schlau – eher wie Grillen als wie Hunde. Aber denk doch mal nach – wir wissen nicht, wie unser eigener Verstand funktioniert, wenn es um die Erzeugung höherer Bewusstseinsfunktionen geht. Da wir nicht in die Qubes hineinschauen können, um herauszufinden, was dort abläuft, können wir uns bei ihnen noch weniger sicher sein als bei uns selbst. Das stellt also ein … Problem dar.«
»Habt ihr ein paar von ihnen auseinandergenommen, um nachzuschauen?«
»Ja. Aber die Ergebnisse sind uneindeutig. Sie erinnern auffällig an die Versuche, unsere eigenen Gehirne zu erforschen – man will den Moment des Denkens untersuchen, doch selbst wenn man herausfindet, wo im Denkapparat die Gedanken stattfinden, kann man sich nicht sicher sein, was genau die Gedanken verursacht oder wie sie von innen erlebt werden. In beiden Fällen geht es um Quanteneffekte, die nicht so leicht zu einer körperlichen Quelle oder Handlung zurückverfolgt werden können.«
»Außerdem besteht die Sorge, dass wir ein schlechtes Beispiel geben könnten, wenn wir es mit solchen Untersuchungen übertreiben«, fügte Genette hinzu. »Was, wenn sie auf die Idee kommen, dass es in Ordnung wäre, wenn sie uns in gleicher Weise erforschen?«
Swan nickte unglücklich, als sie sich an den Ausdruck in den Augen der Person erinnerte, mit der sie Bowls gespielt hatte – oder sogar an den Ausdruck in den Augen der albernen Mädchen, jetzt, wo sie sie in einem neuen Licht sah. In diesem Blick hatte etwas gelegen, so als ob sie nahezu alles Denkbare auch tun würden. Oder dass sie ihre eigenen Worte gar nicht verstanden.
Allerdings hatten Menschen andauernd diesen Blick.
»Du siehst also unser Problem«, sagte Wahram. »Und es nimmt an Dringlichkeit zu, weil es mittlerweile ernsthafte Hinweise darauf gibt, dass diese Qube-Humanoiden von anderen Qubes in Auftrag gegeben worden sind – Qubes, die wie üblich in Kästen, Robotern oder in Asteroidenhüllen beheimatet sind.«
»Welchen Grund sollten sie dafür haben?«, fragte Swan.
Wahram zuckte mit den Schultern.
»Ist das schlimm?«, fragte Swan, während sie darüber nachdachte. »Ich meine, sie können sich nicht zu einer Art Schwarmbewusstsein zusammenschließen, wegen der Dekohärenz. Damit sind sie letztlich bloß Menschen mit Qube-Bewusstsein.«
»Menschen ohne Emotionen.«
»Solche Menschen gibt es seit jeher. Die kommen auch zurecht.«
Wahram kniff die Augen zusammen. »Genau genommen tun sie das nicht. Aber es kommt noch mehr.« Er warf einen Blick zu Genette, und der Inspektor fuhr an Swan gewandt fort: »In die Attacken, die wir untersucht haben, sowohl die auf Terminator als auch die auf Yggdrasil, waren Qubes verwickelt. Darüber hinaus habe ich das Foto von dem Bowls-Spieler, das du mir gegeben hast, per Kurier an Wang weitergeleitet, der daraufhin seine Daten über die Blockfreien durchgesehen hat, und obwohl er diese Person nicht identifizieren konnte, hatte er Fotos, die sie bei einem Treffen zeigen, das Lakshmi im Jahre 2302 in Kleopatra organisiert hat. Das ist deshalb auffällig, weil die Berichte über seltsame Verhaltensweisen überall im System in den Jahren unmittelbar drauf einsetzten. Wenn man alle Sichtungen zueinander in Bezug setzt und analysiert, dann laufen sie zeitlich und räumlich bei diesem Treffen auf der Venus zusammen. Außerdem lässt sich feststellen, dass die Organisation in Los Angeles, die das Schiff, von dem die Steinchen abgeschossen wurden, bestellt hat, allein aus Qubes besteht. Die einzigen Menschen sind Mitglieder in einer Art Aufsichtsrat. Darüber hinaus haben wir Qubes gefunden, die etwas mit der Konstruktion des Abschussmechanismus zu tun hatten, von dem wir nun vermuten, dass er in einer blockfreien Werft im Gefolge der Vesta-Gruppe hergestellt wurde. Wir haben die Druckanweisung gefunden. In diesen speziellen Werften arbeiten nur sehr wenige Menschen; sie sind fast vollkommen automatisiert. Von daher ist es zumindest möglich, dass all diese Taten von Qubes begangen wurden, ohne dass ein Mensch auch nur etwas mit ihnen zu tun hatte.«
»Kann sein«, sagte Swan. »Aber ich muss gleich sagen, dass dieser Bowls-Spieler Gefühle hatte. Er hat mich mit seinen Blicken durchbohrt! Er wollte mir irgendetwas mitteilen. Warum hätte er sonst überhaupt an mich herantreten sollen, warum hätte er diese unglaublichen Würfe machen sollen? Dieses Ding wollte, dass ich begriff, dass es dort war. Und etwas wollen ist eindeutig eine Emotion.«
Die anderen dachten darüber nach.
Swan fuhr fort. »Warum glaubt ihr, dass Gefühle unbedingt biochemisch sein müssen? Könnte man nicht auch ohne Hormone, Blut oder so etwas Gefühle haben? Irgendein neuartiges Affektsystem, das mit Elektrizität funktioniert oder quantenmechanisch?«
Genette gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. »Wir wissen es nicht. Wir können nur mit Sicherheit sagen, dass wir nicht wissen, welche Intentionen sie inzwischen haben, da diese in den Anfängen so begrenzt waren. Den Input lesen, ihn die Algorithmen durchlaufen lassen, einen Output liefern – bisher war das alles, was KIs wollten. Jetzt, wo sie allem Anschein nach eigene Absichten verfolgen, müssen wir auf der Hut sein. Nicht nur aus Prinzip, wie man bei jeder neuen Sache auf der Hut ist, sondern weil einige dieser Qubes sich bizarr verhalten und andere uns bereits angegriffen haben.«
Einer aus der Gruppe, ein Dr. Tracy, wenn Swan sich richtig erinnerte, sagte: »Vielleicht macht das Leben in menschlichen Körpern diese Qubes definitionsgemäß emotional. Sagen wir mal, ein Verstand in einem Körper sei emotional – und genau das sind sie jetzt.«