Wenn Wahram sie morgens durch den Park begleitete, hielt er immer wieder inne, um Vögel und Blumen anzuschauen. Einmal beobachtete sie ihn dabei, wie er eine halbe Stunde lang eine einzige rote Rose betrachtete. Er gehörte zu den gleichmütigsten Tieren, die sie jemals gesehen hatte; selbst die Faultiere über ihnen konnten es an Unerschütterlichkeit nicht mit ihm aufnehmen. Seine Gegenwart war beruhigend, aber auch verstörend. Handelte es sich bei seiner Gelassenheit um eine moralische Eigenschaft, oder war es Lethargie? Lethargie ertrug sie nicht, und Faulheit war eine der sieben Todsünden.
Oft lauschte er seiner Musik. Wenn sie sich ihm näherte, nickte er ihr zu und schaltete sie ab, also tat sie manchmal genau das, und anschließend machten sie einen kleinen Spaziergang zusammen, wobei sie innehielten, wenn etwas Interessantes zwischen den Ästen und Blättern über ihnen oder zwischen den Farnen und Moospolstern zu ihren Füßen auftauchte. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Park um eine kleine Ascension, und die australischen Baumfarne verliehen ihr ein Aussehen, das eher an die Jurazeit erinnerte als an das Amazonasgebiet. Aber das war schon in Ordnung – es sah gut aus so, und eigentlich handelte es sich ohnehin bloß um eine Art Hotelgarten, ein Arboretum, das Swan eigentlich nicht hätte kümmern sollen. Sie versuchte, sich dadurch ebenso wenig stören zu lassen wie durch Wahrams Trägheit. Das fiel ihr nicht leicht, weil es noch etwas anderes gab, was sie beunruhigte.
Eines Morgens fand sie schließlich heraus, was es war. Sie ging alleine spazieren und betrat eine Ebene des Schiffes, auf der große Bildfenster eine weite Aussicht auf den Sternenhimmel boten. Kurz nach der Zusammenkunft auf dem Titan hatte sie Pauline wieder eingeschaltet und es dabei belassen, als sei nichts weiter gewesen. Sie hatte keine Versuche unternommen, Pauline zu erklären, warum sie sie abgeschaltet hatte, und Pauline hatte auch nicht danach gefragt. Jetzt sagte Swan: »Pauline, warst du während dieses Treffens auf dem Titan wirklich abgeschaltet?«
»Ja.«
»Da lief nicht noch irgendeine Art Aufzeichnungsgerät mit, selbst während du abgeschaltet warst?«
»Nein.«
»Warum nicht? Warum zeichnest du nicht alles auf?«
»Ich bin meines Wissens nicht mit einem zusätzlichen Aufzeichnungsgerät ausgestattet.«
Swan seufzte. »Wahrscheinlich hätte ich dir eines besorgen sollen. Also schön, pass auf. Ich möchte dir erzählen, was passiert ist.«
»Solltest du das wirklich tun?«
»Was meinst du damit, ob ich das tun sollte? Ich erzähle es dir jetzt einfach, also halt die Klappe, und hör zu. Die Leute, die sich da getroffen haben, sind der Kern einer von Alex ins Leben gerufenen Gruppe. Sie versuchen, interplanetare Diplomatie zu betreiben, ohne dass irgendwelche Qubes etwas vom Inhalt ihrer Gespräche erfahren, weil sie sich Sorgen darüber machen, dass einige Qubes sich in nicht nachvollziehbarer Art und Weise selbst programmieren. Darüber hinaus stellen die neuen Qubes Humanoide mit Qube-Bewusstsein her, die sich nicht so leicht von Menschen unterscheiden lassen. Sicherlich kann man sie mit Röntgenstrahlen und so erkennen, aber nicht mit bloßem Auge oder anhand eines Gesprächs. Sie überstehen einen kurzen Turing-Test. Wie diese albernen Mädchen, denen wir begegnet sind, falls sie wirklich künstlich waren – was ich allerdings wirklich erstaunlich fände –, oder wie dieser Bowls-Spieler. Darüber hinaus sieht es ganz so aus, als ob diese Qubes etwas mit den Steinchenattacken zu tun haben. Auf jeden Fall gilt das für den Angriff auf Terminator, Inspektor Genettes Team hat nämlich die Abschussvorrichtung aufgespürt, deren Bau von Qubes veranlasst worden ist, und die Zielerfassung und Bahnberechnung muss auch ein Qube durchgeführt haben. Darüber hinaus gibt es deutliche Hinweise darauf, dass es sich bei dem geborstenen Terrarium, in dem so viele Menschen gestorben sind, genauso verhält.«
Nachdem Pauline eine ganze Weile geschwiegen hatte, sagte Swan: »Also, Pauline, was hältst du von alldem?«
»Ich überprüfe die in den von dir gesprochenen Sätzen enthaltenen Informationen«, erklärte Pauline. »Ich habe keine komplette Übersicht von Alex’ Terminplan, aber meistens hat sie sich in Terminator oder auf der Venus oder Erde aufgehalten, weshalb ich mich frage, wann und wo sie sich mit diesen Leuten getroffen haben soll. Bei jeder Funkverbindung zwischen ihnen hätte ein Qube mithören können, würde ich meinen. Ich frage mich also, wie sie sich hinreichend verständigen konnten, um auch nur ihre Treffen zu organisieren.«
»Sie haben Kuriere eingesetzt, um Mitteilungen zu überbringen. Einmal hat Alex mich darum gebeten, einen Brief mit zum Neptun zu nehmen, als ich für eine Installation dorthin unterwegs war.«
»Ja, das stimmt. Das hat dir nicht gefallen. Aber es kommt noch dazu, dass Qubes sich nach allgemeinem Wissensstand nicht so umprogrammieren können, dass sie zu höheren Denkvorgängen in der Lage sind. Schließlich versteht man ja schon beim Menschen kaum, wie diese zustande kommen, es gibt nicht einmal ansatzweise Modelle, von denen man ausgehen könnte.«
»Stimmt das wirklich? Ist man sich nicht im Großen und Ganzen darüber einig, dass das Gehirn eine Menge kleiner Operationen in verschiedenen Bereichen durchführt und dass diese Operationen dann anschließend in anderen Bereichen als Funktionen einer höheren Ordnung zusammengeführt werden – zu Verallgemeinerungen, Vorstellungen und derlei mehr? Neurale Netzwerke und so?«
»Zugegeben, es gibt vorläufige grobe Modelle dieses Typs, aber sie sind nach wie vor wirklich sehr grob. Blutfluss und elektrische Aktivität in lebenden Gehirnen lassen sich sehr genau nachverfolgen, und bei einem lebenden Gehirn gibt es in allen Bereichen viel Aktivität, und viel verändert sich. Aber auf den Inhalt des Denkens kann man nur schließen, indem man misst, welcher Bereich des Gehirns am aktivsten ist, und dem Denkenden dabei Fragen stellt, worauf dieser zwangsläufig die entsprechenden Gedanken zusammenfassen muss, allerdings auch nur die, deren der Denkende sich bewusst ist. Blutfluss, Zuckerverbrauch, elektrische Entladungen, all das kann dann mit bestimmten Arten von Gedanken und Gefühlen korreliert werden, sodass wir inzwischen wissen, wo im Gehirn verschiedene Arten des Denkens stattfinden. Aber die dabei eingesetzten Methoden, die Programmierung, wenn man so will, sind nach wie vor weitgehend unbekannt.«
»Tja … aber … wenn man mit einem ganz anderen physikalischen System ein vergleichbares Ergebnis erzielen will, braucht man dann überhaupt viel genauere Informationen?«
»Ja, die braucht man«, antwortete Pauline. »Die Integration höherer Funktionen ist entscheidend für alle Rechenmechanismen, einschließlich des Gehirns. Wir sind also wieder bei dem Problem, dass ein Verstand nicht mehr leisten kann als seine ursprüngliche Programmierung.«
»Aber was ist, wenn jemand herausgefunden hat, wie man ein Programm für eine sich selbst wiederholende Verbesserungsfunktion schreibt, und das dann einem Qube eingegeben hat, der sich damit selbstständig gemacht hat und immer schlauer geworden ist, oder der vielleicht auch … ich weiß nicht … ein Bewusstsein entwickelt und es an andere Qubes vermittelt hat? Ein einziger Einstein-Qube würde genügen, um die Methode unter allen Qubes zu verbreiten – nicht per Quantenverschränkung, sondern durch digitale Übertragung, vielleicht sogar nur verbal. Hast du schon mal von so etwas gehört?«
»Ich habe von dem Konzept gehört, aber nicht von seiner Umsetzung.«
»Was hältst du davon? Ist so etwas möglich? Bist du dir deiner selbst da drin bewusst?«