Er beachtete ihren Einwand nicht und fing an, einer Person zu helfen, die auf der anderen Seite von ihm lag. Swan wechselte auf den offenen Kanal und hörte jemanden sagen: »Wir gehen also von Bord, weil die KI dieses Schiffs sagt, dass wir das müssen? Kommt das noch irgendjemandem seltsam vor? Können wir sicher sein, dass es sich nicht um eine Art Meuterei handelt? Hoffentlich sind die gut versichert.«
Darauf gab es zehn verschiedene Antworten auf einmal, und Swan schaltete vom offenen Kanal zurück auf die 345. »Wollen wir zusammen raus?«
»Ja«, sagte er. »Natürlich. Wir müssen uns an den Händen festhalten.«
Das gefiel ihr. »Möchtest du lieber früh oder lieber spät raus?«
»Bitte spät. Ich habe das Gefühl, dass ich den Leuten hier helfen sollte.«
»Kannst du dich gut genug bewegen, um zu helfen?«
»Ich glaube schon.«
Sie halfen, so gut es ging. Die Sitzenden zogen die Kauernden ein paar Meter weiter und reichten sie an andere Sitzende weiter. Die Menge musste in Gruppen von Bord gehen, wobei sie die Luftschleuse jedes Mal so voll wie nur möglich stopften, um den Prozess zu beschleunigen. Es gab nicht viele, die zuerst gehen wollten, aber von hinten war ungeduldiges Rufen zu vernehmen, und die Leute auf den Korridoren versuchten nach wie vor einfach nur in den Umkleideraum zu gelangen, weshalb es eine Art osmotischen Druck gab. Jedes Mal, wenn die Schleuse aufging, füllte sie sich schnell wieder; dann wurde das innere Schott geschlossen, man wartete, bis alle draußen waren, schloss das äußere Schott wieder und füllte die Schleuse erneut mit Luft, um sie für die nächste Ladung zu öffnen. Selbst in der Schleuse konnten die Leute sich zuweilen nicht bewegen, und dann mühten sich die anwesenden Kleinen damit ab, sie ins All hinauszubefördern; wenn sich das Innenschott wieder öffnete, waren sie noch da, die Gesichter unter den Helmen voll wilden Übermuts.
Natürlich gab es noch andere Luftschleusen an Bord, was ein Glück war, denn selbst in die größten Personenschleusen passten gerade mal zwanzig Menschen, und das Öffnen und Schließen dauerte jedes Mal etwa fünf Minuten; es würde also an die zwei Stunden dauern, bis alle draußen waren, die in einem Anzug das Schiff verließen. Die meisten Fähren waren anscheinend bereits unterwegs.
Swan half den Leuten weiterhin dabei, sich zu Gruppen zusammenzufinden, bevor sie die Luftschleuse betraten; das beschleunigte den Ablauf. Sie und Wahram arbeiteten als ein Team und machten ihre Arbeit sehr gut, wenn man in Rechnung stellte, dass sie sich kaum von der Stelle rühren konnten. Manchmal beantworteten sie besorgte Fragen. Die Anzüge waren mit Luft-, Wasser und Nahrungsmittelvorräten für zehn Tage ausgestattet und mit einer gewissen Menge Treibstoff. Man hatte Rettungsschiffe alarmiert, die bereits unterwegs waren, sodass es nur Stunden und nicht Tage dauern würde, alle Passagiere einzusammeln. Alles würde in Ordnung kommen.
Trotzdem war es unheimlich, von einem beschleunigenden Raumschiff aus in die Schwärze zwischen den Sternen einzutauchen, mit nichts am Leib als einem Raumanzug. Viele betraten die Schleuse mit weit aufgerissenen Augen, und Swan fühlte mit ihnen, obwohl ihr derlei Aktivitäten normalerweise gefielen.
Manche Gruppen, die zusammen in der Schleuse waren, hielten sich beim Hinausspringen an den Händen, in der Hoffnung, zusammenbleiben zu können; sobald diejenigen, die sich noch an Bord befanden, das auf den Monitoren gesehen hatten, versuchte es praktisch jede Gruppe. Sie waren soziale Primaten, bei Gefahr drängten sie sich zusammen. Niemand wollte alleine sterben.
Die Zeit schien nur langsam zu verstreichen, doch ehe Swan es richtig bemerkte, leerte sich der Umkleideraum. Wahram schaute sie an: Sein Blick verriet ihr, dass sie nicht wie zwei Kapitäne als Letzte von Bord gehen mussten. Als sie das sah, lachte sie und nahm ihn bei der Hand.
»Gehen wir mit der nächsten Gruppe?«
Er nickte dankbar. Es würden nur noch wenige Gruppen aus diesem Raum das Schiff verlassen. Er war bereit.
Sie zog ihn in die Schleuse. Die zwanzig darin befindlichen Personen schauten Richtung Außenschott. Es war wie in einem Fabrikaufzug. Einige umarmten sich. Hände fanden zueinander, bis die ganze Gruppe in einem Kreis vereint war. Swan drückte fest Wahrams Hand.
Die Luft entwich zischend aus der Schleuse. Sie machten sich bereit. Die beiden Torflügel des Außenschotts zogen sich in die Rumpfwände zurück; vor ihnen die gähnende Schwärze des Alls, mit Sternen wie verstreuten Salzkörnern. Nur ein Helmvisier zwischen einem selbst und den Sternen. Es gab so viele Sterne, dass die Muster, wie man sie von der Erde aus sah, darin untergingen; das war schlicht und einfach das Weltall, sternenübersät, namenlos und gewaltig – etwas, dem der menschliche Verstand sich eigentlich niemals hätte aussetzen dürfen. Oder auch einfach der Nachthimmel, ein Begleiter seit Urzeiten, die Hälfte des Lebens. Teil ihrer selbst. Zeit zu schlafen und vielleicht zu träumen. Sie sammelten ihre Kräfte und warfen sich wie aneinandergekettet hinaus.
Sie trieben in der Schwärze, und jemand gab leichten Rückstoß, sodass sie im Kreis von dem schnell davontreibenden Schiff forttrudelten. Schon sehr bald handelte es sich bloß noch um einen entfernten weißen Splitter, der von einem diamantfunkelnden Band am Heck erhellt wurde. Schau weg, versenge dir nicht die Netzhäute; schau wieder hin; vielleicht war die ETH Mobile einer der Sterne dort. Sie waren auf sich gestellt.
Sie sahen keine Spur der anderen Gruppen. Mit einem Mal erschien Swan die Vorstellung, dass man sie finden und retten würde, vollkommen abwegig, wie ein Traum oder eine Hoffnung, die sich unmöglich erfüllen konnte. Sie waren in den Tod gesprungen.
Aber sie war schon zuvor hier draußen gewesen; sie wusste, dass es möglich war. Aufgrund ihrer Anzugsender strahlten sie alle wie kleine, helle Leuchttürme.
Über den Helmfunk einigten sie sich darauf, in ihrer Gruppe auf Frequenz 555 zu kommunizieren, aber mit der Zeit sprachen immer weniger von ihnen. Es gab wenig zu sagen. Swan wollte die Hand loslassen, die nicht zu Wahram gehörte, aber sie tat es nicht. Mit der Linken hielt sie seine rechte umklammert, und zwar fest. Er erwiderte den Druck. Sie wechselte wieder auf Kanal 345 und hörte nur seine Atemgeräusche, langsam und regelmäßig. Als er ihren Atem ebenfalls in seinem Ohr hörte, schaute er sie an. Der Ausdruck auf seinem runden Gesicht hinter dem Visier war tapfer und furchtlos.
»Was meinst du, wann ist es so weit?«, fragte Swan, während sie dem weißen Punkt nachsah, von dem sie vermutete, dass es sich um die ETH Mobile handelte.
»Bald, würde ich meinen«, antwortete er.
Und fast noch während er es sagte, gab es einen Lichtblitz in dem Bereich, den Swan ins Auge gefasst hatte. »Das war es.«
»Mag sein.«
Danach verging viel Zeit. Eine Stunde … zwei Stunden … drei.
Dann sagte Wahram: »Sieh mal; da kommt unser Rettungsschiff.«
Swan verdrehte den Kopf, um über die Schulter zu sehen, und entdeckte eine kleine Raumjacht, die sich ihnen langsam in einem schrägen Winkel näherte.
»Tja«, sagte sie, »gut.«
Und die Venus lag immer noch im Schatten. Anscheinend war der Schild gerettet worden. Und sie waren auch gerettet.
Doch dann explodierte die kleine Jacht direkt neben ihnen. Die durch den Lichtblitz geblendete Swan folgerte beinahe im selben Moment, in dem sie begriff, was passiert war, dass ein Splitter von dem Zusammenstoß der ETH Mobile mit dem Steinchengeschoss in ihre Richtung geflogen war und die Jacht getroffen hatte – pures Pech, vermutete sie, während ihr kleiner Ring von zwanzig Menschen durch irgendetwas auseinandergerissen wurde, wahrscheinlich Gas oder Trümmer von der Jacht, was mit Sicherheit bedeutete, dass es Verletzte gab – wie dem auch sei, in dem Moment, in dem sich die Explosion ereignete, wurde sie sowohl von Wahram als auch von der Person zu ihrer Rechten fortgerissen. Als ihr das klar wurde, rollte sie sich ein und machte einen Salto, um Wahram im Blick zu behalten – sie sah ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen davontrudeln, während ein Nebel roter Kristalle aus seinem Bein sprudelte. »Pauline, mach mein Visier sauber«, befahl sie und tastete nach den Düsenkontrollen in ihren Handschuhen. Sie stabilisierte ihre Flugbahn relativ zu Wahram und gab dann vollen Schub in seine Richtung. Für einige Augenblicke flog sie durch ein Feld von Jachttrümmern, sogar ein großes, trudelndes Bruchstück war zu sehen, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Viertel des Schiffs handelte, so aufgerissen, dass man die Räume und Wände im Innern sah, wie bei einer Risszeichnung oder einer Puppenstube. Sie musste den Kurs ändern, um heckseitig daran vorbeizusausen und dann ihren Anzug so gut wie möglich wieder auf Wahram auszurichten. Er drehte sich noch immer und war bereits sehr viel kleiner geworden; sie gab vollen Schub. Es wäre wohl eigentlich eine Aufgabe für Pauline gewesen, aber man musste Treibgut und Trümmern ausweichen, weshalb Swan selbst die Kontrolle behielt und Wahram hinterherjagte. Sobald sie aus dem Trümmerfeld heraus war, beschleunigte sie einmal mehr und brachte ihre ganzen Flugkünste zum Einsatz, ohne auf etwas außer ihrem Ziel zu achten. Wahram wurde größer. Swan rief: »Pauline, Hilfe!«