»Lass mich den Anzug steuern.«
»Alles klar, nur mach! Mach!«
»Du gibst bereits maximale Beschleunigung. Ich muss abbremsen, wenn du ein Rendezvousmanöver durchführen willst.«
»Tu es!«
Sie schossen inmitten der Sterne dahin. Wahram wurde immer größer. Swan übernahm einmal mehr die Kontrollen, obwohl Pauline Einspruch erhob, und näherte sich ihm so schnell wie möglich, bis zur letzten Sekunde, als sie sich herumwarf und die Anzugdüsen auflodern ließ, während sie beinahe mit ihm zusammenstieß; sie musste ihm mit einem weiteren Düsenschub ausweichen und verfehlte ihn nur um Zentimeter; kurz sah sie sein bewusstloses Gesicht aufblitzen. Sein Mund stand offen. Sie schrie und gab wieder und wieder Schub, ließ den Anzug in einem engen Bogen wenden und flog erneut auf ihn zu. Pauline hätte es nicht besser machen können.
Sein Anzug hatte ein Loch unter dem linken Knie. Gefrorenes Blut klebte wie ein riesiger Schorf daran. Sie packte ihn an der entsprechenden Stelle und hielt den kleinen Riss zu.
»Gib mir einen Schlauch, dann pumpen wir Luft ins Bein.«
Sein eigener Anzug hatte das Leck sicherlich wie mit Druckverbänden abgeschnürt. Sein Unterschenkel war wahrscheinlich bereits gefroren und nicht mehr zu retten, aber die Anzüge waren gut darin, Lecks zu isolieren, und auch in der Behandlung von Schockzuständen. Sie nahm den Schlauch, der aus ihrem Gürtel schaute, und steckte das Ende in das kleine Loch in seinem Anzug; es hatte einen Durchmesser von weniger als einem Zentimeter und war kaum groß genug, um den Schlauch hineinzubekommen. Sie steckte den Finger in das Loch auf der anderen Seite seines Beins und ließ warme Luft in sein Anzugbein strömen, während sie es zuhielt. Dabei rief sie die ganze Zeit: »Wahram, ich bin hier, wach auf!«
Nur Pauline antwortete ihr. »Bitte sei still. Ich kann seine Lebenszeichen nicht hören, wenn du so laut redest.«
»Was meinst du damit?«
»Er atmet. Sein Herz schlägt.«
»Was ist mit seinem Unterschenkel?«
»Die Haut ist erfroren, und das Fleisch wahrscheinlich auch. Sein Blutdruck ist neunzig zu fünfzig, also hat er eine Menge Blut verloren. Er hat einen Schock.«
»Stabilisiere ihn, wärm ihn auf! Übernimm die Kontrolle über seinen Anzug!«
»Sei beruhigt. Ich stehe mit seinem Anzug in Verbindung. Bitte sei jetzt still.«
Sie hielt den Mund und ließ den Qube seine Arbeit machen. Medizinische Notfallbehandlungen folgten einem uralten KI-Algorithmus, der seit Jahrhunderten verfeinert wurde und längst seine Überlegenheit gegenüber menschlichen Hilfsmaßnahmen bewiesen hatte. Und Paulines Aussage zufolge durfte man guten Gewissens davon ausgehen, dass er sich stabilisieren ließ.
Doch dann erklärte Pauline: »Sein Anzug ist ziemlich schwer beschädigt. Ich möchte seine Kontrollfunktionen übernehmen.«
»Kannst du das?«
»Ja. Es ist am einfachsten, wenn ich an ihn angeschlossen bin, also müsst ihr ab dann zusammenbleiben.«
»Umso besser, mach einfach.«
Swan nahm sich das Loch im Bein seines Anzugs vor; in ihrer Gürteltasche hatte sie das benötigte Flickzeug. Sie bereitete den Flicken vor, während sie beide mit einem Datenübertagungskabel an den Hüften verbunden waren. Langsam drehten sie sich inmitten der Sterne, doch Swan hatte keine Augen für die Pracht. Die Flicken aus ihrer Tasche waren größtenteils Quadrate mit abgerundeten Ecken; man musste eine Schutzfolie abziehen, sie behutsam auflegen und andrücken, während die chemische Reaktion stattfand.
Als Wahrams Anzug versiegelt war, fragte Swan Pauline, ob sie an der verwundeten Stelle irgendetwas mit seinem Bein machen sollte. Eigentlich hätte sie es wohl genau andersherum machen sollen, aber Swan war auch ziemlich durcheinander. Außerdem sagte Pauline ohnehin nein. »Sein Anzug hat einen Luftdruckverband angebracht und Gerinnungshelfer verabreicht.«, erklärte Pauline. »Die Blutung ist weitgehend gestillt.«
»Hat der Anzug ihm einen Tropf gelegt?«
»Ja.«
Es war tröstlich, daran zu denken, dass sein Raumanzug nicht bloß ein kleines, biegsames Raumschiff war, sondern auch eine medizinische Hülle von beträchtlicher Leistungsfähigkeit, eine Art Privatkrankenhaus.
»Wahram, hörst du mich?«, fragte sie. »Geht es dir gut?«
»Ich höre dich«, krächzte er. »Es geht mir nicht gut.«
»Was tut dir weh?«
»Mein Bein tut weh. Und mir ist … schlecht. Ich muss mich anstrengen, um mich nicht zu übergeben.«
»Gut – übergib dich nicht. Pauline, kannst du ihm etwas gegen die Übelkeit verabreichen lassen?«
»Ja.«
Sie schwebten in der sternenklaren Nacht. Obwohl Swan es nicht gerne zugab, konnte sie derzeit nichts weiter tun. Die Milchstraße sah aus wie Schlieren weißer, leuchtender Milch, und der Kohlensack und einige andere schwarze Flecken in ihr wirkten noch schwärzer als sonst. Überall sonst war der Himmel so voller Sterne, dass die Schwärze dadurch ihren allumfassenden Charakter verlor – als befände sich dahinter etwas Riesiges, Weißes, das einen Dunst verströmte und größer war, als das Auge wahrnehmen konnte. Der ganz und gar schwarze Fleck in der Milchstraße musste auf eine große Menge Kohle im Kohlensack hindeuten. Wurde all das Schwarz am Himmel durch Staub erzeugt, fragte sie sich? Wenn alle Sterne des Universums sichtbar wären, wäre der Nachthimmel dann von reinem Weiß?
Die größeren Sterne schienen sich in einer anderen Entfernung zu befinden als die kleineren. Das All dehnte sich dadurch mit einem Mal für Swan aus und wurde zu etwas, das sich von ihr fort erstreckte, anstatt eine Kulisse in ein paar Kilometern Entfernung zu sein. Sie steckten nicht in einem schwarzen Sack, sondern in einer grenzenlosen Weite. Eine kleine Einheit in einem großen Raum.
»Wahram, wie geht es dir?«
»Etwas besser.«
Das war gut. Es war gefährlich, sich in einem Helm zu übergeben, und obendrein auch unangenehm.
Und so trieben sie durchs All. Einige Stunden vergingen. Ihre Nahrung bekamen sie in Form von Flüssigkeiten, die sich durch einen Strohhalm im Helm saugen ließen; es gab sogar Nährstoffriegel, die man sich aus einer Innentasche im Helm hervorschieben lassen konnte, um etwas abzubeißen und herunterzuschlucken. Swan tat beides. Sie pinkelte in die Windel ihres Anzugs.
»Wahram, hast du eigentlich ein bisschen Hunger?«
»Nein, keinen.« So wie er klang, schien er sich auch nicht besonders wohlzufühlen.
»Ist dir wieder übel?«
»Ja.«
»Das ist nicht gut. Warte, ich stabilisiere uns im Verhältnis zu den Sternen. Du wirst ein leichtes Ziehen spüren. Vielleicht solltest du lieber die Augen schließen, bis ich uns zur Ruhe gebracht habe.«