»Nein.«
»Alles klar, wir werden ohnehin nicht besonders schnell sein. Los geht’s.« Sie gab einen Düsenstoß ab, um ihr Drehmoment abzubremsen, was mit Wahrams Masse, die locker an ihrer Seite hing, nicht ganz einfach war. Es war besser, ihn zu umarmen und sein Gewicht vor sich zu haben. Das tat sie und drückte ihn dabei ein winziges bisschen. Er antwortete nur mit einem leisen, klagenden Brummen. Swan brachte sie im Verhältnis zu den Sternen in eine mehr oder weniger stabile Lage und richtete sie so aus, dass sie die Venus sehen konnten. Sie lag nach wie vor im Schatten. Wenn der Sonnenschild zerstört oder auch nur beschädigt worden wäre, hätten sie es gesehen, da war sie sich sicher. Sie hätten irgendeine Art Halbmond gesehen oder vielleicht einen weiß lodernden Bereich; und da sie sich seitlich des Schirms befanden, den das Geschoss hatte treffen sollen, war es ihres Erachtens nicht möglich, dass ein erleuchteter Teil der Venus vollständig auf der anderen Seite des Planeten liegen konnte. Oder vielleicht war es doch möglich; sie war desorientiert, das musste sie zugeben. Aber es machte den Eindruck, als sei der Anschlag vereitelt worden.
»Pauline, hast du irgendeine Ahnung, was aus dem Schiff und dem Sonnenschild geworden ist?«
»Bei den Berichten, die über Funk hereinkommen, handelt es sich noch um die ersten Reaktionen, aber sie lassen vermuten, dass es wie vorhergesehen zu einer Kollision gekommen ist zwischen der ETH Mobile und einer Steinchenzusammenballung, die etwa die vierfache Masse des Schiffs hatte. Das entspricht hinreichend genau den Vorhersagen, und das Schiff war schneller als die Steinchen, ausreichend, um den Großteil der Aufschlagmasse seitlich von dem Schirm abzulenken.«
»Also hat es funktioniert.«
»Abgesehen davon, dass ein Teil der ausgestoßenen Trümmer das Schiff in unserer Nähe getroffen hat, dessen Explosion wiederum Bruchstücke ins All geschleudert hat, von denen eines Wahram getroffen hat.«
»Ja, natürlich. Aber das war bloß Pech.«
»Zweifellos sind mehrere Personen auf diesem nahen Raumschiff ums Leben gekommen.«
»Das weiß ich. Es war wirklich Pech. Von einem Granatsplitter getroffen, sozusagen. Aber der Sonnenschild ist gerettet?«
»Ja. Und das Verteidigungssystem des Sonnenschilds hat anscheinend die Trümmerstücke, die auf ihn zugeflogen sind, zerstört.«
»Jetzt glaubt seine KI also an die Steinchenattacken.«
»Oder zumindest an die Einschlagkörper, die sich ihr nähern. Ich weiß nicht, was für ein Problem sie zuvor hatte.«
»Wusste die KI von diesem neuen, hochauflösenden Bildsystem von Wang?«
»Wang hat den Venusianern davon erzählt, aber ihr Verteidigungssystem ist geschlossen, damit sich niemand daran zu schaffen machen kann. Ich weiß nicht, ob es sich an dem neuen Überwachungssystem beteiligt hat oder nicht.«
»Vielleicht ist es leichter, sich an einem geschlossenen System zu schaffen zu machen, als an einem offenen. Ist es möglicherweise kompromittiert?«
»Das halte ich für unwahrscheinlich. Es steht unter der Kontrolle der Venus-Arbeitsgruppe, von der man weiß, dass sie viel Wert auf Sicherheit legt.«
Wahram beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Swan hielt seine Hand und drückte sie von Zeit zu Zeit. Mehr gab es für sie nicht zu tun. Er erwiderte den Druck für einen kurzen Moment, dann wurde seine Hand wieder schlaff.
»Geht es dir gut?«
»In Ordnung«, antwortete er.
»Hast du versucht, etwas zu essen?«
»Noch nicht.«
»Zu trinken?«
»Noch nicht.«
Sie trieben in der Schwärze des Raums, schwerelos und warm, wie kleine Venusmonde oder selbst wie kleine Planeten, die um die Sonne kreisten. Die Situation, in der sie sich befanden, war zuweilen schon als eine Art Heimkehr in den Mutterleib beschrieben worden, als amniotischer Rausch. Wenn man ein paar entheogene Drogen nahm, konnte man zu einem Sternenkind werden. Und tatsächlich war es kein so entsetzlicher Anblick, wie man es hätte erwarten sollen. Für einen Moment schlief Swan sogar ein. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie den Eindruck, dass die Venus ein kleines bisschen größer geworden war. Das war nur logisch: Als sie das Schiff verlassen hatten, waren sie bereits mit hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen.
»Bist du noch da?«
»Ja, bin ich.«
Tja, dachte Swan. Da waren sie. Außer Warten gab es für sie nichts zu tun. Warten war noch nie ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen. Normalerweise gab es immer mehr zu tun, als sie bewältigen konnte, weshalb sie es immer eilig hatte. Jetzt wurde ihr die Wartezeit bis zu ihrer Rettung lang. Als sie von Bord gegangen waren, hatte es geheißen, dass Raumschiffe in der Nähe waren. Vielleicht war Wahram in eine unvorhergesehene Richtung gestürzt; Swan war ihm gefolgt, ohne einen Gedanken an diese Möglichkeit zu verschwenden. Vielleicht verließen sie die Ebene der Ekliptik und damit auch den Bereich, in dem Schiffe unterwegs waren, die sie retten konnten. Vielleicht war die arme, zerstörte Jacht das einzige Schiff in der Gegend gewesen, und sie würden warten müssen, bis man alle anderen Flüchtlinge eingesammelt hatte. Höchstwahrscheinlich hatte die Zerstörung der kleinen Jacht die meisten Todesopfer bei dieser ganzen Sache gefordert, weshalb sie sicherlich Aufmerksamkeit erregen würde. Man würde wissen, dass nicht alle Leute eingesammelt worden waren; also würden sie weitersuchen; und diese Anzüge hatten leistungsfähige Sender. Wahrscheinlich ließ sich die Verzögerung am besten dadurch erklären, dass sie die Ebene der Ekliptik verlassen hatten. Oder vielleicht dauerte es einfach ein bisschen, alle einzusammeln. Die letzte Beschleunigung der ETH Mobile hatte vielleicht dazu geführt, dass sie zu dem Zeitpunkt, als die letzten Passagiere sie verlassen hatten, mit einer Geschwindigkeit unterwegs gewesen war, die die meisten Raumschiffe gar nicht erreichen konnten. Und für die von Bord Gegangenen galt natürlich dasselbe. Wenn alles so war, wie es sein sollte, dann würden alle Raumanzüge ihre Insassen für zehn Tage versorgen, und sie waren erst … wie lange? – sie musste Pauline fragen – zwanzig Stunden hier draußen. Es kam ihr länger vor, oder auch kürzer – sie wusste es nicht. Die Venus war eindeutig etwas größer. Swan erinnerte sich an Geschichten von Schiffbrüchigen, die man nicht gefunden hatte und die jahrtausendelang gefroren durchs All trieben. Wie vielen war es im Laufe der Geschichte schon so ergangen? Dutzenden, Hunderten, Tausenden? In ihrem Kopf hörte sie den Refrain eines alten marsianischen Liedes:
In Gedanken bei Peter trieb ich im Raum
Und hoffte man fände mich bald
Ach mach dir nichts vor
Du alberner Tor
Dein Grab ist dunkel und kalt
Zweifellos waren viele dieser Unglücklichen bis zum letzten Moment in der Hoffnung dahingetrieben, dass man sie retten würde. Die Hoffnung zerrinnt langsamer als Luft und Nahrung in Raumanzügen; wahrscheinlich hatten sie an die Geschichte von Peter gedacht, der um den Mars kreiste, oder an irgendeinen anderen Schiffbrüchigen, der gerettet worden war, und fest daran geglaubt, dass gleich ein kleines Raumschiff auftauchen und wie ein UFO über ihnen schweben würde, wie eine vom Himmel gesandte Erlösung, wie das Leben selbst. Aber für viele war die Rettung niemals gekommen, und irgendwann hatten sie sich eingestehen müssen, dass die Wirklichkeit etwas anderes war als die Geschichten, oder zumindest ihre Wirklichkeit. Für andere waren die Geschichten wahr geworden, aber nicht für sie; die anderen waren die Erwählten, sie waren die Verlorenen. Die Vergessenen. Wie in dem schonungslosen marsianischen Lied.
Vielleicht würden diesmal auch sie zu den Vergessenen gehören. Swan rappelte sich auf, hörte den offenen Kanal ab, auf dem allseitiges Gebrabbel herrschte; sie schaltete auf den Notkanal und setzte krächzend einen Bericht ab, einen Hilferuf. Etwa eine halbe Stunde später kam eine Antwort: Man hatte sie auf dem Radar, und ein Rettungsschiff war zu ihnen unterwegs; sie befanden sich tatsächlich außerhalb der Ebene der Ekliptik, und alle Reaktionsteams waren beschäftigt. Aber man hatte sie auf dem Schirm und früher oder später würde Hilfe eintreffen.