Also … schau dich um. Erzähl es Wahram, mach ihm Mut. Versuch, dich zu entspannen.
Sie war nicht entspannt. Ein hilfloses Entsetzen überkam sie, als würde ihr Blut zu kochen beginnen. Pauline würde es mitbekommen; vielleicht verabreichte sie ihr in eben diesem Moment Medikamente gegen die Angst aus der Apotheke ihres Raumanzugs. Hoffentlich. Sie konnte nichts weiter tun als warten. Weiteratmen. Abwarten. In ihrem bisherigen Leben hatte sie den Luxus genossen, immer etwas tun zu können, niemals warten zu müssen. Jetzt holte die Wirklichkeit sie ein. Manchmal musste man einfach warten.
Tja, dann war das eben so. Ein bisschen Wartezeit war gar nicht so übel. Es war besser als auf dem Blackliner. Die Venus schien wieder ein wenig näher gerückt zu sein, und sie war auch etwas heller – vielleicht war der Sonnenschild doch ein wenig eingerissen, an der Kante, die der Explosion am nächsten gewesen war. Sie konnte dunkle Wolken erkennen, die einen dunkleren Fleck umwirbelten, bei der es sich um die Ishtar-Hochebene handeln mochte. Unter den wirbelnden Wolken sah sie hellere und dunklere Bereiche, aber welche davon den gefrorenen Ozean darstellten und welche das gefrorene Festland, konnte sie nicht sagen. Es gab keine Blau-, Braun- oder Grüntöne, nur graue Wolken über grauem Land, dunkel und dunkler.
»Es geht mir besser«, erklärte Wahram unsicher, als wollte er probieren, wie die Worte sich anfühlten.
»Ah, gut«, sagte Swan. »Versuch, etwas zu trinken. Du bist wahrscheinlich dehydriert.«
»Ich habe Durst.«
Mehr Zeit verstrich. Nach einer Weile begann Wahram, halblaut zu pfeifen, eine der Melodien, die er in dem Versorgungstunnel gepfiffen hatte. Beethoven, das wusste sie, und zwar keine der Symphonien. Also handelte es sich wahrscheinlich um eines der späten Streichquartette. Ein langsamer Satz. Vielleicht derjenige, den Beethoven nach seiner Genesung von einer Krankheit geschrieben hatte. Eine Danksagung. Sie würde es erst mit Sicherheit wissen, wenn sie den abschließenden Ton hörte. Jedenfalls war es eines von den guten Stücken. Leise pfiff sie eine Begleitstimme, ließ die Lerche in ihrem Innern singen, während sie seine Hand drückte. Es war eine langsame Melodie, in der sie nicht einfach herumzwitschern konnte. Sie musste einen Weg finden, sich zu bremsen, sich ihm anzupassen. Ihr Lerchengehirn erinnerte sich an die Teile der Melodie, die er ihr unter der Oberfläche des Merkur beigebracht hatte. Während ihres untermerkurianischen Lebensabschnitts, der eine Ewigkeit her zu sein schien. Dieses Leben war dahin; das jetzige würden sie ebenfalls hinter sich lassen; das bedeutete für diesen Moment allerdings keinen großen Unterschied, ob sie nun überleben würden oder nicht. Ach, wie schön dieses Lied doch war, etwas, an dem man sich emporranken konnte. Das Lerchengehirn in ihrem Innern sang noch immer, sein Zwitschern stieg aus der langsamen Melodie empor. Verschiedene Zeitmaße wurden miteinander verwoben.
»Erinnerst du dich?«, fragte sie ihn, als sie einmal innehielten. Mit angespannter Stimme und einem Griff, der ihm beinahe die Finger quetschte: »Erinnerst du dich daran, wie wir in dem Tunnel waren?«
»Ja, allerdings.«
Sie nahmen die Melodie wieder auf. Er bekam mit Mühe und Not ein halbwegs gutes Pfeifen zustande; oder zumindest erweckte er derzeit diesen Eindruck. Vielleicht hatte er immer noch Schmerzen. Musikalisch waren sie in dem Tunnel besser gewesen. Jetzt klangen sie wie Armstrong und Fitzgerald, wobei er sein Äußerstes gab, um wenigstens im Ansatz hier und da zufällig ein Minimum an Perfektion zu erreichen, während sie ohne jede Mühe und beinahe spielerisch einen perfekten Klang erzielte. Ein Duett von Gegensätzen. Der Kampf und das Spiel, die gemeinsam etwas Besseres erzeugten als jeweils für sich alleine. Vielleicht brauchte man beides. Vielleicht hatte sie ihr Spiel zu einem Kampf gemacht, obwohl sie eigentlich ihren Kampf zu einem Spiel hätte machen müssen.
Am Ende gelangten sie zu der Melodie. Ja, es war die Danksagung. »Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit«, hatte Beethoven sie laut Wahram genannt, in der lydischen Tonart. Und der Titel beschrieb das Gefühl gut, was nicht immer so war. Die Melodie selbst drückte das Gefühl von Dankbarkeit aus, mit einem untrüglichen Gespür für Musik als Sprache der Gefühle. Wie war das möglich? Wer hatte das vollbracht? Beethoven, die menschliche Nachtigall. In unseren Köpfen gibt es Lieder, dachte sie, ob man nun Vogelgehirnzellen in sie eingesetzt hat oder nicht; sie waren schon vorher dort, tief unten im Cerebellum, seit Millionen von Jahren konserviert. Dort gab es keinen Tod: Vielleicht war der Tod eine Illusion, vielleicht lebten diese Muster bis in alle Ewigkeit, Musik und Gefühle, die durch ein Universum nach dem anderen trieben, auf den Schwingen flüchtiger Vögel.
»Seit dem Tunnel«, sagte sie zu ihm, als er zu pfeifen aufgehört hatte, »haben wir eine Beziehung.«
»Mmm«, sagte er, was Zustimmung bedeuten konnte oder auch nicht.
»Meinst du nicht?«, wollte sie wissen.
»Doch, schon.«
»Wenn wir einander nicht hätten begegnen wollen, hätten wir uns aus dem Weg gehen können. Aber das wollten wir anscheinend gar nicht. Wir wollten …«
»Hmm«, erwiderte er ausweichend.
»Was meinst du damit? Willst du es abstreiten?«
»Nein.«
»Was meinst du dann damit?«
»Ich meine«, sagte er bedächtig, hielt inne und schien dann mit einem Mal keine Lust mehr zum Reden zu haben. Durch sein Visier sah sie, dass er nun endlich zu ihr schaute und nicht länger zu den Sternen dort draußen, und das erschien ihr wie ein gutes Zeichen, aber es beunruhigte sie zugleich, weil sein Blick so ernst und durchdringend war. Diese Tauchgänge in die Tiefen des Bewusstseins waren Amphibienarbeit, die ihre Kröte auf ihre schweigsam zerstreute Art erledigte.
»Ich bin gerne mit dir zusammen«, fuhr er fort. »Es kommt mir so vor, als wären die Dinge interessanter, wenn ich mit dir zusammen bin.« Er schaute sie weiter an. »Ich pfeife gerne mit dir. Unsere gemeinsame Zeit im Tunnel war schön.«
»Die fandest du schön?«
»Aber natürlich. Das weißt du doch.«
»Nein«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich weiß oder nicht weiß. Das ist Teil meines Problems.«
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Aber natürlich«, sagte sie. »Ich habe dich auch lieb.«
»Nein, nein«, erwiderte er. »Ich liebe dich.«
»Ich verstehe!«, sagte sie. »Aber ach je … ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was du meinst.«
Er lächelte sein kleinstes Lächeln. Es war so klein und blieb beinahe hinter seinem Visier verborgen, aber es erschien nur auf seinem Gesicht, wenn ihn etwas wirklich belustigte. Es war nie bloß eine höfliche Geste. Wenn er höflich sein wollte, dann schaute er finster drein.
»Ich weiß auch nicht, was ich meine«, antwortete er. »Aber ich sage es trotzdem. Dass ich es zu dir sagen will – diese Art Liebe ist das.«
»Oh-oh«, sagte sie. »Hör mal, das ist doch verrücktes Gerede. Dein Bein ist gefroren, und du hast sicher einen Schock. Dein Anzug hat dich mit allem möglichen Zeug vollgepumpt.«
»Da hast du höchstwahrscheinlich recht«, räumte er ein wenig verträumt ein. »Trotzdem, das gestattet es mir nur zu sagen, was ich wirklich empfinde. Sagen wir mal aufgrund einer gewissen Dringlichkeit.«
Er lächelte erneut, wenn auch nur kurz. Er beobachtete sie wie … tja, sie wusste nicht wie was. Es war kein Falkenblick, und ganz und gar nicht der lange Blick eines Wolfs. Eher handelte es sich um einen neugierigen, interessierten Blick – einen fragenden Froschblick, als wollte er gerne wissen, was für ein Geschöpf sie war. Robot? Limit? Räuber? Robert?