Er schlief ein, und als die Waggontüren sich öffneten und er aufwachte, fühlte er sich halb verhungert. Er wartete, bis die Luft rein war, sprang aus dem Waggon und eilte davon. Niemand war zu sehen. Erst war er sich nicht sicher, aber nachdem er sich aus dem Bahnhof herausgeschlichen hatte, wurde klar, dass er sich innerhalb der Kuppel von Colette befand. Es war drei Tage her, dass er Vinmara verlassen hatte, und er fühlte sich leicht benommen vor Hunger, aber auch sehr erleichtert.
Jetzt ging es darum, Shukra zu finden. Er konnte zu seiner Unterkunft zurückkehren, aber dort hatten ihn Lakshmis Agenten immer aufgesucht … Letztlich schlenderte er durch die Straßen der großen Stadt, versuchte, unschuldig auszusehen und begab sich zu dem Gebäude, in dem Swan ihn damals Shukra vorgestellt hatte. Nach diesem ersten Treffen war Shukra immer zu ihm gekommen, weshalb Kiran nicht wusste, wohin er sich sonst hätte wenden sollen. Er hatte eine Menge Zeit gehabt, über dieses Problem nachzudenken, aber er war sich noch immer nicht ganz sicher, wie er die Sache am besten angehen sollte. Es bestand sehr wohl die Möglichkeit, dass er vom Regen in die Traufe geriet, aber da Shukra sich mit ihm in Verbindung gesetzt und ihm gesagt hatte, wonach er Ausschau halten sollte, hoffte er, dass er vielleicht eher von der Traufe zurück in den Regen kommen würde, oder vielleicht sogar ganz ins Trockene. So oder so musste er das Risiko eingehen, jemanden um Hilfe zu bitten, und bei Shukra hatte er die besten Chancen. Also betrat er das Bürogebäude durch den Haupteingang, ging an den Empfangstresen und sagte zu den drei Wachleuten dort: »Ich möchte Shukra sehen. Bitte sagen Sie ihm, dass ich das habe, worum er mich gebeten hat, und dass ich es ihm geben möchte.«
Swan und Kiran
Von einem Kreuzer aufgelesen, der sich als Interplan-Schiff entpuppte; gewaschen, eine Mahlzeit; zwölf Stunden am Stück geschlafen; aufgestanden und wieder gegessen; dann waren sie in der Venus-Umlaufbahn, und anschließend in einer Landefähre, die wie ein Ziegelstein dem nach wie vor im Schatten liegenden Planeten entgegenstürzte, am Ende abbremste und dumpf auf einer Landebahn aufsetzte. Als sie die große Raumhafenhalle betraten, sah Swan, dass sie bei Colette gelandet waren. Man hatte Aussicht auf eine zerklüftete, verschneite Hügellandschaft im Norden, die im Zwielicht wirbelnder schwarzer Wolken lag. Die Venus!
In Gedanken war Swan noch immer voll und ganz mit dem beschäftigt, was geschehen war, während sie so unmittelbar dem All ausgesetzt gewesen waren, weshalb die Szenerie vor ihren Augen ihr wie ein Traum vorkam. Man trennte sie von Wahram und unterzog sie beide einer ärztlichen Untersuchung, dann kam die lange Erörterung des Unglücksfalls. Die Leute, die mit ihr redeten, waren aufgebracht; anscheinend blieb Swan nichts anderes übrig, als sich mit der Gegenwart zu befassen, wie substanzlos sie ihr auch erscheinen mochte. Über das, was vorgefallen war, und über ihre Gefühle dabei, konnte sie später nachgrübeln. Sie wollte nicht, dass es ihr entglitt wie alles andere auch.
Ihre Gastgeber kredenzten ein Festmahl aus zahlreichen Dim-Sum-Häppchen, jedes nur ein Mundvoll oder eine Kostprobe, immer mit einer anderen Soße, bis ihr Gaumen völlig überfordert war; nach vier Bissen fühlte sie sich vollgestopft. Ihr Magen rebellierte; er brummte und knurrte während des gesamten Gesprächs, das sich an die Mahlzeit anschloss.
Viele der Anwesenden tranken Liköre und Opiat-Cocktails. Swan trank Mineralwasser und beobachtete die anderen wachsam. Die Venusianer schienen in ziemlich niedergedrückter Stimmung zu sein. Einige Witzbolde hoben die Stimmung etwas, aber sie saßen größtenteils am selben Tisch und lachten gemeinsam über das Aufgebot an Speisen, während die anderen missmutig, geradezu grimmig wirkten. Natürlich war es schön und gut, dass man den Sonnenschild gerettet hatte, ganz klar ein großer Sieg. Aber ihr Verteidigungssystem hatte sie im Stich gelassen, und die Gefahren, die der Sonnenschild mit sich brachte, waren allen deutlich vor Augen geführt worden. Dieses Mal hatte man die Katastrophe noch abwenden können, aber sie hing noch wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen: ein schreckliches Schicksal, nur aufgeschoben durch eine Vorrichtung, die kaum mehr war als eine Jalousie oder ein runder Drachen an einer Schnur.
In einer besonders missmutigen Ecke beschäftigte man sich mit der Frage, was mit den Sicherheitssystemen des Sonnenschilds geschehen war; die Anwesenden klopften mit den Fingern auf die Graphen in ihrer Tischplatte und redeten hektisch aufeinander ein. Anscheinend waren die meisten der Meinung, dass das Versagen bei der Abwehr auf eine Infiltration zurückzuführen sei. Wahram fuhr in einem Rollstuhl herein und gesellte sich zu ihnen. Sein linkes Bein war starr ausgestreckt und weiß bandagiert. Er redete bedächtig, während mehrere Leute mit ihm sprachen. Einmal warf er Swan einen Blick zu, als hätte er gerade etwas gehört, was sie wahrscheinlich interessieren würde; dann vertiefte er sich wieder in das Gespräch. Swan hoffte, dass sie später mehr darüber erfahren würde. Aber dann kam ihr in den Sinn, dass er sich möglicherweise verpflichtet fühlte, den anderen zu sagen, dass sie Pauline von Alex’ Gruppe erzählt hatte, obwohl sie versprochen hatte, genau das nicht zu tun. Wie sollte sein Bericht über die Ereignisse auch sonst einen Sinn ergeben? Tja, letztlich hatte ihr unbedachtes Handeln die Venus gerettet. Nicht dass man es ihr deshalb leichter machen würde. Man würde sie fortan als absolut unverlässliches, leichtsinniges Plappermaul von einem Qubeschädel betrachten. Ein solches Urteil würde schnell bei der Hand sein.
Sie saß da und beobachtete die Venusianer. Sie saßen schlaff und deprimiert in ihren Stühlen. Swan stellte einige Fragen, die man ihr manchmal beantwortete, manchmal auch nicht.
Einmal mehr sprach sie eine Frage an, über die anscheinend niemand nachdenken wollte: »Ich vermute, dass ihr bei dem Sonnenschild bleiben müsst, jetzt, wo er einmal da ist?«
Einer wedelte ungeduldig mit der Hand. »Manche sagen nein. Sie sind der Meinung, dass wir umsatteln sollten.«
»Wie meinst du das? Würde das nicht bedeuten, dass man das Drehmoment des Planeten beschleunigen müsste, sodass er eine Art Tag und Nacht hätte?«
»Ja.«
»Aber wie?«
»Dazu gibt es nur eine Möglichkeit«, erwiderte ein anderer. »Ein schräg von der Seite niedergehender, schwerer Meteorregen.«
»Ein sehr spätes großes Bombardement«, rief jemand von dem Tisch mit den Witzbolden.
»Aber würde das die vorhandene Oberfläche nicht in Trümmer legen?«, fragte Swan. »Den Steinschaum aufbrechen, das CO2 emporschleudern, die Atmosphäre ruinieren … und überhaupt alles, was ihr bisher geleistet habt?«
»Nicht alles«, erwiderte der Erste. »Wir würden einfach immer auf dieselbe Stelle zielen. Es würde nur ein bisschen … Unordnung geben.«
»Unordnung!«
»Hör mal, die Idee gefällt uns auch nicht besonders. Wir haben uns gegen eine Beschleunigung des Drehmoments eingesetzt. Wir alle.« Er machte eine Geste, die die Anwesenden mit einschloss. »Aber Lakshmi und ihre Leute vertreten die Position, dass es ohne allzu große Störungen gelingen kann. Nur ein weiterer kurzer, tiefer Meeresgraben und etwas Auswurfmasse auf seiner Ostseite. Auch andere Gegenden würden darunter leiden, insbesondere um den Äquator, aber die Bakterien, die wir bereits dort draußen haben, würden es überleben. Und es würde nur ein paar Prozent des vergrabenen CO2 freisetzen.«
»Aber würde es nicht ein paar Hundert Jahre schweren Bombardements brauchen, um das nötige Drehmoment zu erzeugen?«