»Die Idee ist, die Drehung so weit zu beschleunigen, dass wir einen Hundertstundentag bekommen. Unserer Meinung nach kommen die meisten irdischen Lebensformen damit zurecht. Es würde also bloß etwa hundert Jahre dauern.«
»Bloß hundert!«
Eine neue Stimme mischte sich ein: »Diese Leute vertreten die Meinung, dass wir beim ersten Mal zu ungeduldig waren.« Die Person, die gesprochen hatte, war alt, sie hatte lebendige Augen in einem maskenhaft verwitterten Gesicht. Ihre Worte klangen ein wenig reuig und ein wenig angewidert. »Wir haben uns zu sehr am Mars orientiert! Und uns für den Sonnenschild entschieden, weil es die schnellste Methode war! Aber wenn man ihn einmal hat, muss man ihn auch behalten. Man ist davon abhängig. Und jetzt erkennen die Leute, welche Risiken er birgt. Deshalb wird Lakshmi gewinnen. Man wird sich für das Bombardement entscheiden.«
»In der Arbeitsgruppe, meinst du?«
»Ja. Wir werden in Schutzräumen bleiben oder uns sogar in fliegende Städte zurückziehen müssen oder für eine Weile nach Hause zurückkehren. Warten, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.«
Wahram, der zu ihnen herübergefahren war, sagte: »Aber womit wollt ihr die Venus diesmal bombardieren? Ihr könnt jedenfalls nicht wieder irgendwelche Monde zerlegen.«
»Nein«, sagte die Alte. »Das hatte auch damit zu tun, dass wir es zu eilig hatten. Aber es gibt viele Neptun-Trojaner, die man herunterschicken könnte.«
»Erheben die Tritonier nicht auch Anspruch darauf?«
»Es gibt Tausende davon. Und der Planet hat sie sich alle aus dem Kuiper-Gürtel eingefangen. Wir könnten sie aus dem Kuiper-Gürtel ersetzen, wenn die Tritonier es wollen. Für den Neptun wäre es also nicht notwendigerweise ein Verlust. Im Prinzip haben die Tritonier uns bereits zugestimmt.«
»Tja«, sagte Swan perplex, weil ihr sonst nichts dazu einfiel. Sie betrachtete die grimmigen, verärgerten Mienen um sie herum. »Ist es das, was die Leute hier wollen? Wisst ihr überhaupt, was die Leute wollen?«
Sie sahen einander an. Der erste Sprecher sagte: »Es gibt ein mehrschichtiges Netzwerk von Kadern, wie bei den Panchayats in Indien. Und alle reden miteinander. Wir sind hier nur 40 Millionen. Die Arbeitsgruppe hört also unsere Stimmen genau wie die von allen anderen. Aber eigentlich hat die Idee ohnehin schon Fuß gefasst. Und jetzt, nach dieser Sache, sieht man die Notwendigkeit. Lakshmi hat gewonnen.«
Später, als Swan wieder allein in ihrem Krankenhauszimmer war, klopfte es leise an der Tür, und herein kam Shukra mit ihrem jungen Freund von der Erde, Kiran. Sie begrüßte die beiden erfreut, und der Anblick ihrer so lebendigen und realen Gesichter munterte sie sofort auf. Shukra, mit dem sie vor einer Million Jahre zusammengearbeitet hatte; Kiran, ihr neuester Freund – jetzt hatten beide den gleichen Gesichtsausdruck, ernst und zielstrebig. Sie setzten sich an Swans Bett, und Swan goss ihnen Wasser ein.
»Hör dir mal an, was der Junge zu erzählen hat«, sagte Shukra und neigte den Kopf in Richtung Kiran.
»Was denn?«, fragte Swan, die sich sofort auf Probleme gefasst machte.
Kiran hob eine Hand, um sie zu beruhigen. »Als du mich hergebracht hast, hast du mir gesagt, dass es hier verschiedene Interessengruppen gibt. Das hat sich als wahr herausgestellt. Es gibt sogar eine Art verdeckten Bürgerkrieg.«
»Lakshmi«, sagte Shukra düster, als würde das alles erklären. »Er hat sich mit ihr eingelassen.«
»Ist das schlecht?«, frage Swan. »Ich meine … ich bin diejenige, die ihm gesagt hat, dass er es bei ihr versuchen soll.«
Shukra verdrehte die Augen, als er das hörte. »Swan, du warst vor hundert Jahren hier. Du hättest wissen müssen, dass sich die Dinge seitdem verändert haben. Erzähl es ihr«, sagte er zu Kiran.
»Ich habe angefangen, für Lakshmi Sachen zu transportieren und Nachrichten zu überbringen«, sagte Kiran, »und Shukra hat das mitbekommen und mich dazu veranlasst, bei meinen Erledigungen für sie die Augen offenzuhalten.«
»Er war ein Köder«, sagte Shukra mit einem kalten Lächeln, »und sie hat ihn geschluckt. Aber wahrscheinlich wusste sie, dass er ein Köder war.«
Kiran nickte, und seine Miene schien zu sagen: Sieh, was du mir eingebrockt hast. »Es gibt eine neue Küstenstadt, die von Lakshmis Team ausgebaut wird, der Ort gehört eindeutig ihr, und aus irgendeinem Grund liegt er zu tief unten. Die Leute dachten, dass die Stadt vielleicht überflutet werden soll, für einen Versicherungsbetrug oder etwas in der Art. Wie dem auch sei, dort geht etwas Seltsames vor. Ich glaube, dass sie Androiden oder etwas in der Art herstellen. Roboter, die wie Menschen aussehen, weißt du?«
»Ja, ich weiß«, sagte Swan. »Erzähl weiter.«
»Es gibt dort ein abgeriegeltes Verwaltungsgebäude, das ziemlich groß ist. Ich habe gesehen, wie man dort eine Kiste mit Augäpfeln angeliefert hat. Ich glaube, dass sie dort künstliche Menschen zusammenbauen. So eine Art Frankenstein-Fabrik.«
»Das hast du gesehen?«
»Der Wachmann, mit dem ich unterwegs war, hat eine Kiste aufgemacht, die voller Augäpfel war. Es hat ihm nicht gefallen, dass ich das gesehen habe, deshalb musste ich zu Lehrer Shukra laufen und ihn um Hilfe bitten.«
Shukra nickte, wie um zu sagen, dass das klug gewesen war. Swan sagte zu ihm: »Und diese Stadt, in der er war, gehört also Lakshmi?«
»Ja«, sagte Shukra. »Ihre Arbeitseinheiten haben die Stadt errichtet. Also pass auf – ich weiß nichts über diese Vinmara-Operation, aber sie hat Leute, die in Kleopatra eintreffen und die wir nicht identifizieren können. Ich habe selbst ein Büro in Kleopatra, offiziell handelt es sich um eine offene Stadt, obwohl eigentlich sie diejenige ist, die dort das Sagen hat. Ich habe versucht herauszufinden, wo diese Leute herkommen. Aber jetzt … als ich von dem Angriff auf den Sonnenschild gehört habe, habe ich als Allererstes gedacht: Tja, das ist ja wirklich praktisch für meine Freundin Lakshmi. Jetzt bekommen die Leute solche Angst, dass sie auch dafür sind, den Planeten in Rotation zu versetzen, und wenn wir das machen, dann wird das neue Loch, das man in den Äquator reißt, die Ausdehnung der Meere schrumpfen lassen. Und Orte wie Vinmara, die zu weit unten liegen, befinden sich dann plötzlich auf der richtigen Höhe.«
»Ah«, sagte Swan. »Puh. Aber … was ist mit den Chinesen?«
»Die Chinesen verabscheuen die Idee eines zweiten Bombardements, und wenn es trotz ihres Widerstands dazu kommt, dann verlieren sie an Einfluss – wiederum ein Punkt für Lakshmi. Und ehrlich gesagt will sich hier ohnehin niemand etwas von Peking sagen lassen. Das spricht also auch zu ihren Gunsten.«
»Und was ist mit diesen Humanoiden, die sie bauen lässt?« Swan beugte sich vor und tippte auf den Tischmonitor. »Hier – zeig mir, wo dieses Vinmara auf der Karte liegt. Wir holen Inspektor Genette her, und Wahram auch. Die werden sich sehr für euren Bericht interessieren.«
Erst traf Genette in Swans Zimmer ein und dann Wahram, der allein in seinem Rollstuhl hereingefahren kam, das linke Bein nach wie vor mit Spezialverbänden umwickelt. Sie hörten sich Kirans Geschichte an und saßen anschließend da und dachten darüber nach, was all das zu bedeuten hatte.
Inspektor Genette sagte: »Ich glaube, wir müssen ein paar Dinge entscheiden, bevor wir handeln. Nach den jüngsten Ereignissen bin ich mir ziemlich sicher, dass ich unseren Plan ausführen muss, von dem ich dir, Swan, noch nicht erzählt habe. Wenn du also dazu bereit bist, einmal mehr Pauline abzuschalten, kann ich ihn dir erklären.«
Swan war sich nicht sicher, ob sie all das noch einmal durchmachen wollte. Inzwischen wusste Genette sicher, dass sie Pauline vom Inhalt der letzten Zusammenkunft erzählt hatte, deshalb war ihr nicht klar, wozu es gut sein sollte.
So oder so kam ihr Wahram zuvor, der zu Genette sagte: »Ich fürchte, wir sollten den Plan lieber in die Tat umsetzen, ohne ihn Swan zu erklären. Vielleicht schaltet sie Pauline für die Dauer des Gesprächs ab, aber hinterher erzählt sie ihr möglicherweise davon, wie schon beim letzten Mal.«