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»Vielleicht hast du recht. Ich weiß gar nicht, warum ich dich für dumm gehalten habe, obwohl du doch so machtvolle Argumente hast. Aber trotzdem …«

»Das ist eine Kombination von Sarkasmus und Aporie in dem negativen Sinne, den ich bereits zuvor erwähnte, ein Moment des Zweifels, oft vorgetäuscht, der einer erneuten Attacke vorausgeht.«

»Und diese Verteidigung bezeichnet man als Kasuistik, bei der man sich, wenn man nichts zu sagen hat, in eine Wolke von Geschwätz zurückzieht. Vielleicht hast du ja recht, vielleicht geht es einfach nur um schlaues Bewusstsein und um dummes Bewusstsein. Das würde so einiges erklären.«

Pauline schien sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Ich bin gerne dazu bereit, unsere Sprechakte einer Doppelblind-Studie zu unterwerfen, um festzustellen, ob sich zwischen deinen und meinen Aussagen überhaupt ein Unterschied feststellen lässt.«

»Wirklich?«, fragte Swan. »Willst du damit sagen, dass du einen Turing-Test bestehen würdest?«

»Das hängt davon ab, wer die Fragen stellt.«

Swan lachte höhnisch, aber Wahram konnte heraushören, dass sie ehrlich belustigt war. Immerhin dazu war der Qube gut.

Alle halbe Stunde wechselten sie sich mit dem Vorgehen ab, einfach nur, um die Zeit im Blick zu behalten und um die spärliche Aussicht etwas zu variieren. Oft sprachen sie längere Zeit nicht miteinander; sie hätten auch gar nicht ununterbrochen reden können, dachte sich Wahram. In jedem Fall wanderten sie oft mehrere Minuten am Stück schweigend einher. Die Tunnellichter über ihren Köpfen schienen sich aus eigener Kraft nach hinten zu bewegen, als liefen sie auf einem ungeheuren Riesenrad, mit dessen Drehgeschwindigkeit sie gerade so mithalten konnten. Nach einer Stunde taten Wahram die Füße weh, und er war froh, sich setzen zu können. Sie benutzten ihre Aerogel-Schlafmatratzen als Sitzkissen. Ihre Mahlzeiten kamen aus Folienpäckchen, die sich bei der Notfallausrüstung in den Stationen fanden, und waren größtenteils geschmacklos. Nach einer Weile tranken sie am liebsten Wasser, obwohl es Pülverchen gab, die man nach Wunsch hineinmischen konnte.

Normalerweise machten sie eine halbe Stunde Pause. Wenn er länger saß, wurden Wahrams Glieder steif und Swan wurde unruhig. Und die Sonnenläufer würden einen zu großen Vorsprung gewinnen. Also stemmte sich Wahram jedes Mal ächzend hoch und ging wieder los. »Meinst du, dass wir in einer dieser Stationen Gehstöcke finden?«

»Wohl kaum. Wir können bei der nächsten mal schauen. Vielleicht können wir etwas improvisieren.«

Wenn sie länger geschwiegen hatten, blaffte Swan manchmal unvermittelt: »Na schön, erzähl mir was! Erzähl mir von dir! Was ist das Erste, woran du dich erinnern kannst?«

»Ich weiß nicht«, sagte Wahram, während er in seinem Gedächtnis forschte.

»Meine erste Erinnerung«, sagte sie, »stammt aus der Zeit, als ich laut meiner Eltern drei war. Meine Eltern gehörten zu einer Hausgemeinschaft, die ans andere Ende der Stadt ziehen wollte. Ich glaube, wir haben von Norden nach Süden getauscht, um beim Vorbeiziehen einen Blick auf die andere Hälfte des Umlands zu haben. Oder vielleicht haben sie mir das auch bloß erzählt. Es gab also einen Haufen Wagen, und beide Häuser karrten ihr Zeug hin und her. Der gesamte Besitz meiner Familie passte auf einen Generatorkarren und zwei Handkarren. Als unser Zuhause ausgeräumt war, nahm meine Mutter mich noch mal mit rein, und es hat mir Angst gemacht. Ich glaube, deshalb erinnere ich mich noch daran. Mein Zimmer sah leer so viel kleiner aus, und das kam mir irgendwie verdreht vor, als wäre die Welt zusammengeschrumpft, und das machte mir Angst. Wir füllen Zimmer, um sie größer zu machen. Dann sind wir wieder rausgegangen, und das andere Bild, das zusammen mit dem von dem leeren Zimmer hängen geblieben ist, war all das Zeug auf dem Karren, und wie alle daneben am Wegesrand standen, unter einer Baumgruppe. Hinter den Bäumen sah ich hier und da die Dämmerungsmauer.«

Eine Weile wanderten sie schweigend weiter, und das leere Knurren in Wahrams Magen sagte ihm, dass es bald Zeit für die nächste Mahlzeit war.

»Das ist jetzt alles niedergebrannt«, sagte sie.

Ihre Stimme klang ungewöhnlich ruhig. Offenbar trauerte sie nun in anderer Weise.

»Sobald die Sonne so hoch stand, dass die Stadt nicht mehr im Schatten der Dämmerungsmauer lag«, fügte sie hinzu, »ist es sicher schnell gegangen.«

»Ich weiß, dass die Schienen auf der Sonnenseite nicht schmelzen«, sagte Wahram. »Sonst noch etwas?«

»Die Infrastruktur der Stadt dürfte erhalten geblieben sein«, gab sie zu. »Die Hülle. Einige Metalle, Keramiken, Mischungen von beidem. Glasartige Metalle. Und der ganz gewöhnliche, gehärtete rostfreie Stahl. Wir werden sehen. Es wird sicher interessant herauszufinden, wie sie aussieht, wenn die Nacht wieder hereinbricht. Dann ist wahrscheinlich alles bis auf ihr Gerippe verbrannt. Die Pflanzen sind wahrscheinlich gestorben, sobald sie der Sonne ausgesetzt waren. Alle Pflanzen und Tiere werden wohl inzwischen tot sein, selbst die Bakterien und so. Wir müssen es wieder aufbauen.«

»Vielleicht«, erwiderte er.

»Wie meinst du das?«

»Nun ja, man wird sicher erst herausfinden wollen, was mit den Schienen vorgefallen ist, und sichergehen, dass etwas Ähnliches nicht noch einmal passieren kann. Oder die Konstruktionsweise ändern. Man könnte die Stadt beispielsweise von den Schienen befreien und auf Rädern durch die Lande rollen lassen.«

»Dafür bräuchte man einen Antrieb«, bemerkte sie. »Bislang hat die Ausdehnung der Schienen die Stadt vorangetrieben.«

»Tja, dann wird es interessant zu sehen, wie die Sache weitergeht.« Wahram zögerte. »Es wäre sinnlos, die Stadt wieder aufzubauen, nur damit es erneut zu so einem Vorfall kommt.«

»Wenn es ein extrem unwahrscheinlicher Unfall war, würde er sich wohl kaum wiederholen.«

»So wie ich es verstanden habe, hatte man sich eigentlich schon gegen alle derartigen Unwägbarkeiten abgesichert.«

»So habe ich das auch verstanden. Willst du damit andeuten, dass es sich um eine Art Angriff gehandelt hätte?«

»Tja nun, ich habe zumindest über die Möglichkeit nachgedacht. Denk doch nur daran, was uns auf Io widerfahren ist.«

»Aber warum sollte jemand Terminator angreifen?«, wollte sie wissen. »Und warum die Stadt angreifen und sie dann um ein paar Kilometer verfehlen, sodass sie zwar vernichtet wird, die Bewohner aber überleben?«

»Ich weiß nicht«, sagte Wahram voll Unbehagen. »Es wird viel über den Konflikt zwischen Erde und Mars geredet und darüber, dass er zu einem Krieg führen könnte.«

»Ja«, sagte sie, »aber letztlich kommen die Leute immer zu dem Schluss, dass so etwas unmöglich wäre, weil alle viel zu verwundbar sind. Am Ende würde man sich nur gegenseitig auslöschen, wie immer.«

»Darüber habe ich auch schon die ganze Zeit nachgedacht«, räumte Wahram ein. »Wie wäre es mit einem Erstschlag, der nach einem Unfall aussieht und so gut gelingt, dass niemand den Angreifer erkennt, während das Opfer praktisch ausgelöscht wird? In einem derartigen Szenario könnte man meinen, dass es nicht mit Sicherheit zur gegenseitigen Auslöschung kommt.«

»Aber wer hätte ein Interesse daran?«, fragte Swan.

»Fast jede Macht auf der Erde könnte sich etwas davon versprechen. Die sind dort unten sicherer als irgendwer sonst. Und der Mars interessiert sich bekanntermaßen nur für sich selbst, und außerdem kann man ihm nicht mit einem einzigen Pfeil die Luft ablassen. Nein, meiner Meinung nach ist es durchaus denkbar, dass es da draußen Kräfte gibt, die sich für unverwundbar halten. Oder die so wütend sind, dass ihnen die Konsequenzen egal sind.«

»Aber was könnte der Grund dafür sein?«, fragte Swan. »Was löst eine derartige Wut aus?«

»Ich weiß nicht … sagen wir Nahrung, Wasser, Land … Macht … Prestige … Ideologie … materielle Vorteile … Wahnsinn. Das sind die üblichen Motive, nicht wahr?«