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»Stammen sie also von Bruchstücken?«

»Nein. Die Gravitation ist hier so gering, dass kaum ein Bruchstück zurückfällt. Wenn doch, dann würde es einfach aufsetzen und nicht einschlagen. Diese Löcher sind tiefer.«

Swan nickte. Auf der holperigen Asteroidenoberfläche lagen viele Steine herum. »Und wie stuft der alte Bericht diese Krater ein?«

»Als Anomalien. Man hat vermutet, dass es sich um Lochbrüche handelt, verursacht durch Eisvorkommen, die durch die Aufschlaghitze geschmolzen sind. Möglich wäre das. Aber ich nehme an, dass du dir die Berichte über den Terminator-Unfall angesehen hast?«

»Ja.«

»Erinnerst du dich, dass es dort auch Anomalien gab? Was immer in die Schienen eingeschlagen ist, es war kein sauberer Treffer. Es gibt Krater, die weiter draußen liegen, sehr kleine Krater, die vor dem Zwischenfall noch nicht da waren. Zugegeben, auf dem Merkur könnten sie von herabgefallenen Bruchstücken stammen …«

»Könnte es nicht sein, dass der Einschlagkörper auf dem Weg nach unten auseinandergebrochen ist?«

»Das passiert normalerweise nur, wenn es eine Atmosphäre gibt, die ihn aufheizt und abbremst.«

»Könnte nicht auch die Gravitation des Merkur dafür verantwortlich sein?«

»Deren Auswirkungen wären zu vernachlässigen.«

»Ich weiß nicht, vielleicht ist er dann auch nicht auseinandergebrochen.«

Die kleine Gestalt nickte. »Ja, so ist es.«

»Wie meinst du das?«

»Er ist nicht auseinandergebrochen. Genau genommen hat er sich zusammengesetzt.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine damit, dass seine Masse sich erst im allerletzten Moment überhaupt zusammengeballt hat. Deshalb hat keines der Frühwarnsysteme des Merkur ihn kommen sehen. Wenn der Meteorit von irgendwo gekommen wäre, hätten sie ihn sehen müssen, aber kein einziges Überwachungssystem hat ihn entdeckt. Für mich sieht das nach einem Problem der Nachweisgrenze aus. Eine solche Grenze liegt entweder in der Messmethode begründet, oder sie wird künstlich festgelegt und liegt über dem eigentlichen, unteren Grenzwert.«

»Warum denn das?«

»Normalerweise, damit es nicht ständig Alarm gibt, obwohl eigentlich gar keine Gefahr besteht.«

»Ah.«

»Jedes System ist anders, aber beim Verteidigungsapparat des Merkur stimmt die Schwelle, ab der ein Alarm ausgelöst wird, so ziemlich mit der methodischen Nachweisgrenze überein. Das heißt, das System schlägt ab einem Wert an, der doppelt so hoch wie der kleinste messbare Wert ist, was dem Sechs- oder Siebenfachen der Standardabweichung der Messvariabilität entspricht. Das ist eine typische Einstellung, bei der man damit rechnen kann, sowohl möglichst wenig falsche Negative als auch möglichst wenige falsche Positive zu erhalten.

Jetzt stell dir vor, was dann unterhalb des Meldeniveaus liegt. Im Prinzip eigentlich nur sehr kleine Steinchen, die deutlich weniger als ein Kilogramm wiegen. Aber wenn es sich um viele solche Steinchen handeln würde, die sich erst im letzten Moment zusammenballen, wobei jeder einzelne mit anderer Geschwindigkeit aus einem anderen Himmelsquadranten kommt, jedoch so aufeinander abgestimmt, dass sie alle zur selben Zeit an derselben Stelle eintreffen … dann wären sie bis zur letzten Sekunde nur kleine Steinchen. Man hätte sie vom anderen Ende des Sonnensystems aus werfen können, und vielleicht sogar im Laufe mehrerer Jahre. Und trotzdem, wenn sie in richtiger Weise geworfen werden, dann treffen sie sich zum geplanten Zeitpunkt. Viele Tausende, sagen wir mal.«

»Also eine Art intelligenter Mob.«

»Nur dass er nicht mal intelligent ist. Er besteht bloß aus Steinen.«

»Wäre das machbar? Ich meine, gibt es etwas, das berechnen kann, wie fest und in welche Richtung man die Steine werfen muss?«

»Ein Qube könnte das. Wenn ein hinreichender Teil der Masse des Sonnensystems in Bezug auf ihren Ort und ihre Flugrichtung erfasst ist und genug Rechnerleistung zur Verfügung steht, ist das machbar. Ich habe Passepartout darum gebeten – er sollte eine Umlaufbahn für eine Kugel aus einem Kugellager oder Kugelschreiber oder etwas Ähnliches berechnen, die man vom Asteroidengürtel aus so werfen will, dass sie ein bestimmtes Ziel auf dem Merkur trifft. Es hat nicht besonders lange gedauert.«

»Aber könnte man diese Würfe auch durchführen? Ich meine, kann man eine Abschussvorrichtung bauen, die die Steinchen mit der nötigen Präzision schleudert?«

»Passepartout sagt, es gibt Maschinen, deren Toleranzbereich zwei oder drei Größenordnungen unterhalb des nötigen Werts liegt. Man bräuchte bloß eine ruhige Abschussfläche. Je stabiler, desto besser, wenn man konsistente Ergebnisse will.«

»Das ist ein ganz schöner Schuss ins Blaue«, erwiderte Swan. »Wie viele Massekörper wurden in die Bahnberechnung einbezogen?«

»Ich glaube, Passepartout hat die schwersten zehn Millionen Objekte im Sonnensystem einbezogen.«

»Und von all denen kennen wir den genauen Standort?«

»Ja. Soll heißen, die KIs kennen ihren genauen Standort. Und die größten Terrarien und Raumschiffe setzen ihre Flugpläne Jahre im Voraus fest. Was die Berechnungen angeht, man braucht einen Qube, um sie innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens anzustellen, will sagen, schnell genug, um in Echtzeit Abschussanweisungen zu geben.«

»Wie lange dauert das?«

»Ein Qube wie Passepartout braucht drei Sekunden. Konventionelle KIs brauchen etwa ein Jahr pro Steinchen, womit das Ganze natürlich nicht zu bewerkstelligen wäre. Ohne Quantenrechner geht es also nicht.«

Swan wurde mit einem Mal übel, als befände sie sich wieder im Tunnel unter der Oberfläche des Merkur. »Es geht also um zehntausend kleine Steinchen, die im Laufe von Monaten oder Jahren durch das Sonnensystem geschleudert werden und deren Bahn und Geschwindigkeit so aufeinander abgestimmt sind, dass sie alle zur selben Zeit am selben Punkt eintreffen.«

»Ja. Und mit Sicherheit sorgen ein paar stochastische Gravitationsfluktuationen am Ende dafür, dass das eine oder andere Steinchen danebengeht. In dem Fall müssten die meisten dieser Steinchen sogar weit am Ziel vorbeigehen.«

»Aber einige verfehlen es nur knapp.«

»Genau. Und daher die kleinen Löcher, die wir hier sehen. Vielleicht ist ein Raumschiff dafür verantwortlich, das seinen Flugplan geändert hat, oder etwas in der Art. Etwa ein oder zwei Prozent der Steinchen dürften ein derartiges Clinamen erfahren, schätzt zumindest Passepartout.«

Jetzt krampften sich ihre Eingeweide ernsthaft zusammen. »Also tut jemand das mit Absicht.« Sie deutete mit einer Handbewegung auf das verlassene Terrarium.

»So ist es. Und ein Qube muss in die Sache verwickelt sein.«

»Scheiße.« Sie hielt sich einen Arm vor den Bauch. »Aber wie … wie könnte jemand …«

Genette legte ihr eine kleine Hand auf den Arm. Yggdrasil schwebte unter ihnen dahin, kalt und tot. Eine graue Kartoffel. »Lass uns auf die Gerechtigkeit zurückkehren.«

Zurück an Bord des Interplan-Hoppers saß Swan nach dem Essen noch bis spät abends mit Genette in der Messe.

Swan, die nicht aufhören könnte, über das, was sie heute erfahren hatte, nachzudenken, sagte: »All das bedeutet also, dass wer auch immer …«

Genette gebot ihr mit erhobenen Händen Einhalt. »Bitte erst die Qubes ausschalten.«

Nachdem sie ihre Geräte beide ausgeschaltet hatten, fuhr Swan fort: »Das bedeutet, wer immer das getan hat, könnte die Tat bereits vor Jahren begangen haben.«

»Oder zumindest vor einiger Zeit, ja. Vor einer ganzen Weile.«

»Und die Steinchen wurden von mehr als einem Ort aus abgeschossen.«

»Ja. Aber vielleicht gibt es die Abschussvorrichtung trotzdem noch. Diese Pistole oder dieses Katapult, oder was auch immer benutzt wurde, muss ein hochpräzises Gerät sein. Eine außergewöhnliche handwerkliche Meisterleistung. Der Toleranzbereich, den Passepartout angegeben hat, ist sehr gering. Dafür braucht man Molekulardrucker und Ähnliches. Vielleicht können wir das Werk aufspüren, in der etwas derart Ausgefallenes hergestellt wurde – das werden wir überprüfen. Und dann erfahren wir vielleicht auch, wer es in Auftrag gegeben hat.«