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Letztlich redete sie doch mit Pauline darüber. Sie hatte eine Idee, die sie überprüfen wollte, und mit Pauline ging das am besten. Schließlich war sie als Stimme in Swans Ohr immer präsent und hörte alles, was Swan laut aussprach. Früher oder später würde sie ohnehin von allem erfahren.

Also: »Pauline, weißt du, worüber Genette und ich gesprochen haben, während du abgeschaltet warst?«

»Nein.«

»Kannst du es erraten?«

»Möglicherweise habt ihr über den Zwischenfall von Yggdrasil gesprochen, den du ja gerade gesehen hattest. Dieser Zwischenfall erinnert in mancherlei Hinsicht an den bei Terminator. Falls es sich um absichtliche Attacken handelte, dann könnten ihre Urheber die Geschossbahnen mithilfe eines Quantencomputers berechnet haben. Falls Inspektor Jean Genette glaubt, dass die Sache etwas mit Quantencomputern zu tun hat, dann wird Genette vielleicht nicht wollen, dass ein Quantencomputer etwas über die Einzelheiten der Ermittlungen mithört. Das wäre vergleichbar mit Alex’ Bemühungen, einige ihrer Überlegungen vollständig vor allen KIs zu verbergen und aus ihren Aufzeichnungen herauszuhalten, seien es nun Dateien auf Quantenrechnern oder digitale. Die Grundannahme dabei scheint zu sein, dass Quantencomputer, falls sie verschlüsselte Funknachrichten miteinander austauschen, möglicherweise Aktivitäten planen, die den Menschen schaden könnten.«

Genau wie sie vermutet hatte: Pauline war in der Lage, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Zweifellos galt das auch für viele andere Qubes, einschließlich Genettes Passepartout, der mit Sicherheit auf Forensik und Nachweismethoden programmiert war. Wenn-dann, wenn-dann, wie viele Milliarden Male pro Sekunde? Es ähnelte vielleicht ihren Schachprogrammen, die sich als übermenschlich gut in diesem speziellen Spiel erwiesen hatten. Insofern hatte es kaum einen Sinn, die Qubes vor bestimmten Gesprächen abzuschalten.

Was bedeutete, dass Swan ruhig sagen durfte: »Pauline, wenn jemand bei der Berechnung einer Flugbahn für einen Körper, der Terminator treffen und zerstören soll, vergessen würde, die relativistische Präzession des Merkur miteinzubeziehen und lediglich gemäß der klassischen Orbitalmechanik vorginge, wie weit würde er Terminator dann verfehlen? Vorausgesetzt die Annahme, dass der Körper ein Jahr zuvor vom Asteroidengürtel aus abgeschossen wurde. Versuch es mit ein paar verschiedenen Abschussstellen, Flugbahnen und Zeitpunkten, sowohl mit den Relativitätsgleichungen für die Präzession als auch ohne sie.«

Pauline sagte: »Die Präzession des Merkur beträgt 5603,24 Winkelsekunden im Jahrhundert nach dem julianischen Kalender, wobei der Anteil, der von der durch die allgemeine Relativitätstheorie beschriebenen Krümmung der Raumzeit verursacht wird, 42,98 Winkelsekunden im Jahrhundert beträgt. Jede Flugbahn, die ein Jahr dauert und ohne Einbeziehung dieses Faktors berechnet wurde, muss ihr Ziel deshalb um 13,39 Kilometer verfehlen.«

»Was auch in etwa passiert ist«, sagte Swan und spürte einmal mehr Übelkeit in sich aufsteigen.

Pauline sagte: »Da es sich um eine Präzession handelt, hätte das Geschoss östlich und nicht westlich der Stadt einschlagen müssen.«

»Oh«, sagte Swan, »Tja, dann …« Sie wusste nicht, welchen Reim sie sich darauf machen sollte.

Pauline fuhr fort: »Die normalen Orbitalmechanik-Programme für die Transportrouten entlang der inneren Planeten beziehen die allgemeine Relativität routinemäßig ein. Man muss nicht daran denken, die Relativitätsgleichungen einzubeziehen. Wenn allerdings jemand, der das nicht wüsste, versuchen würde, eine Flugbahn für einen Einschlag zu programmieren, ohne dabei auf frei verfügbare Vorlagen zurückzugreifen, könnte dieser Jemand möglicherweise die Relativitätsgleichungen noch einmal hinzufügen, obwohl sie bereits einbezogen wurden. Wenn dieser Jemand dann direkt auf die Stadt zielen würde, entstünde eine Abweichung von 13,39 Kilometern in westlicher Richtung.«

»Ah«, sagte Swan, der nun noch übler wurde. Sie schaute sich nach einem Platz zum Hinsetzen um. Terminator war eine Sache, die Einwohner der Stadt waren eine andere: ihre Familie, ihre Bekanntschaften … dass es vielleicht jemanden gab, der dazu fähig war, all diese Menschen zu ermorden … »Aber … das klingt nach einer menschlichen Fehlleistung.«

»Ja.«

Später an jenem Abend blieb Swan einmal mehr lange in der Kantine. Ihr gegenüber am Tisch saß Genette und aß Weintrauben. Swan sagte: »Seit du mir von der Steinchen-Attacke erzählt hast, glaube ich, dass es wahrscheinlich eigentlich direkt Terminator hätte treffen sollen und jemand einen Fehler gemacht hat. Wenn dieser Jemand nicht gewusst hätte, dass die Relativitätsgleichungen für die Präzession des Merkur bereits in die Standardalgorithmen einbezogen sind und sie zusätzlich berechnet hätte, dann würde er genau so weit in westlicher Richtung am Ziel vorbeischießen, wie es tatsächlich der Fall war.«

»Interessant«, sagte Genette und musterte sie aufmerksam. »Ein Programmierfehler, mit anderen Worten. Ich war davon ausgegangen, dass man Terminator absichtlich verfehlt hat – dass es sich gewissermaßen um einen Warnschuss handelte. Darüber muss ich genauer nachdenken.« Nach einer kurzen Pause: »Danach hast du wohl deine Pauline befragt?«

»Das habe ich. Sie hatte bereits geschlussfolgert, worum es bei unserem Gespräch im Groben ging, während sie abgeschaltet war. Mit Passepartout verhält es sich sicher genauso.«

Ohne etwas zu erwidern, runzelte Genette die Stirn.

Swan fuhr fort: »Ich kann nicht glauben, dass jemand versuchen würde, so viele Menschen umzubringen. Oder es sogar wirklich tun würde, wie an Bord der Yggdrasil. Wir haben doch so viel Raum zur Verfügung … so viel von allem. Ich meine, wir leben in einer Gesellschaft, in der es eigentlich keine Not mehr gibt. Ich kapiere das nicht. Du sprichst von einem Motiv, aber in einem physiologischen Sinne gibt es kein Motiv für so etwas. Wahrscheinlich bedeutet es, dass das Böse wirklich existiert. Ich dachte, das wäre nur ein alter religiöser Begriff, aber da lag ich wohl falsch. Mir wird ganz schlecht davon.«

Genettes hübsches kleines Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Manchmal glaube ich, dass es das Böse nur in Gesellschaften gibt, die keine Not mehr kennen. Vorher konnte man immer alles auf Bedürfnisse oder Ängste zurückführen. Man konnte, wie du es offenbar auch getan hast, daran glauben, dass zusammen mit Angst und Mangel auch der Impuls verschwinden würde, etwas Schlimmes zu tun. Die Menschheit würde sich sozusagen als ein Volk von Bonobos erweisen, als altruistische Kooperative, geprägt von allseitiger Liebe.«

»Genau!«, rief Swan. »Warum nicht!«

Genette zuckte abgeklärt und gleichmütig mit den Schultern. »Vielleicht waren wir nie frei von Angst und Mangel. Es ist nicht nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf, was uns ausmacht. Man sollte meinen, dass es sich dabei um die bestimmenden Faktoren handelt, aber viele wohlgenährte Bürger eines Gemeinwesens sind voller Wut und Angst. Sie verspüren gemalten Hunger, wie die Japaner sagen. Gemalte Angst, gemaltes Leid. Der Zorn des unterwürfigen Willens. Der Wille ist eine Frage der freien Entscheidung, aber Unterwerfung bedeutet die Abwesenheit von Freiheit. Deshalb fühlt der unterwürfige Wille sich besudelt, er verspürt Schuld und bringt sie zum Ausdruck, indem er etwas Äußerliches angreift. Und so geschieht dann etwas Böses.« Ein weiteres Schulterzucken. »Wie auch immer man es sich erklärt, die Menschen tun Böses. Glaube mir.«

»Das muss ich wohl.«

»Bitte.« Genette lächelte jetzt. »Ich möchte dich nicht mit all den Dingen belasten, die ich schon gesehen habe. Manches davon hat bei mir ganz ähnliche Fragen aufgeworfen wie bei dir. Das Konzept des unterwürfigen Willens hat mir dabei weitergeholfen. Und in letzter Zeit frage ich mich, ob nicht jeder Qube definitionsgemäß eine Art unterwürfiger Wille ist.«