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Lange gab es also ein allgemein anerkanntes Schema, laut dem auf die Feudalzeit und die Renaissance die Frühmoderne (17. und 18. Jahrhundert) folgte, dann die Moderne (19. und 20.) und die Postmoderne (20. und 21.) – danach brauchte man dann eindeutig eine neue Bezeichnung. Eine ganze Weile lang ließ dieses Bedürfnis immer neue konkurrierende Systeme entstehen, und dieser Wettbewerb sowie die meistens mikroskopisch detaillierte Narratologie der damaligen Historiker verhinderten die Einführung von Begrifflichkeiten, die ähnlich anerkannt und allgemeingültig wie die vorangegangenen waren. Erst in den letzten Jahren des 23. Jahrhunderts schlug Charlotte Shortback der historischen Forschergemeinde ihre Nomenklatur vor, durch welche die sogenannte »lange Postmoderne« ersetzt werden sollte, ein Begriff, der schon unzählige Male auf diversen Konferenzen bemängelt worden war. Später behauptete sie, dass ihr System zum Teil als Witz gemeint gewesen war, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist es inzwischen weit verbreitet.

Laut Shortback lässt sich die lange Postmoderne folgendermaßen unterteilen:

Das Zeitalter des Zauderns: 2005 bis 2060. Vom Ende der Postmoderne (das Charlotte auf die UN-Verlautbarung über den Klimawandel datiert) bis zum Sturz in die Krise. Verschwendete Jahre.

Die Krise: 2060 bis 2130. Auflösung des arktischen Sommereises, irreversible Permafrost-Schmelze und Methanfreisetzung sowie das Akzeptieren eines steigenden Meeresspiegels. In diesen Jahren kamen alle negativen Entwicklungen zusammen wie ein »perfekter Sturm« und führten zu einem Anstieg der Globaltemperatur um fünf Kelvin und einem Anstieg des Meeresspiegels um fünf Meter. In der Folge kam es in den 2120ern zu Nahrungsmittelknappheit, Massenaufständen, Katastrophen auf allen Kontinenten mit hohen Opferzahlen und zu einer gewaltigen Spitze im Artensterben. Erste Mondbasen, Forschungsstationen auf dem Mars.

Die Kehrtwende: 2130 bis 2160. Shortbacks häufig zitierter »Wertewandel«, gefolgt von Revolutionen; starke KI; selbst replizierende Fabriken; Beginn des Terraforming des Mars; Fusionsenergie; starke synthetische Biologie; Anstrengungen zur Klimabeeinflussung einschließlich der katastrophalen Kleinen Eiszeit 2142–54; Weltraumaufzüge auf Erde und Mars; schneller Raumantrieb; Beginn der Weltraum-Diaspora; Bildung des Mondragon-Bundes. Und damit:

Das Accelerando: 2160 bis 2220. Umfassende Anwendung der neuen technischen Möglichkeiten einschließlich der Verlängerung der menschlichen Lebensdauer; Terraforming des Mars und daran anschließend marsianische Revolution; weitgehende Diaspora ins Sonnensystem; Aushöhlung der Terrarien; Beginn des Venus-Terraforming; Bau Terminators; Mars tritt dem Mondragon-Bund bei.

Das Ritardando: 2220 bis 2270. Die Gründe dafür, dass das Tempo des Accelerando abnahm, sind umstritten. Historiker verweisen auf den Abschluss des Terraforming des Mars, seinen Rückzug aus dem Mondragon und seinen zunehmenden Isolationismus, die Belegung der besten Kandidaten für Terrarien und die beinahe vollständige menschliche Inanspruchnahme des leicht verfügbaren Heliums, Stickstoffs, der Seltenen Erden, fossilen Brennstoffe und der Photosynthese im Sonnensystem. Außerdem tauchten erste Probleme im Zusammenhang mit den Langlebigkeitsbehandlungen auf, die noch dazu nicht allen zugänglich waren. In letzter Zeit haben einige Historiker darauf hingewiesen, dass es sich auch um den Zeitraum handelt, in dem Quantencomputer eine Rechenleistung von 30 Qubits erreichten und mit klassischen Petaflop-Computern zu Qubes kombiniert wurden – wobei bisher noch nicht gezeigt werden konnte, dass Qubes den ohnehin schon schnellen KIs funktional überlegen sind, während zugleich die dem Quantencomputing innewohnenden Dekohärenz-Probleme vielleicht mit dazu beigetragen haben, die Voraussetzung für die darauffolgende Periode zu erzeugen:

Die Balkanisierung: 2270 bis 2320. Spannungen zwischen Mars und Erde, Aggression und Kalter Krieg um die Kontrolle des Sonnensystems; marsianischer Isolationismus; innere Konflikte auf der Venus; auf den Jupitermonden beschließt man, die großen drei zu terraformen; Entstehung einer Vielzahl von blockfreien Terrarien und Verschwinden zahlreicher Bevölkerungen hinter »Ereignishorizonten«; Einfluss der Qubes; unvorhersehbare Engpässe machen sich zunehmend bemerkbar und haben das Horten von Gütern und später Tribalismus zur Folge; die Wiederkehr der Tragödie der Allmende; Aufsplitterung in weit verstreute, »selbst versorgende« Enklaven von Stadtstaaten.

Den Begriff »Hyperbalkanisierung« hält Shortback bloß für einen Auswuchs der überhitzten Rhetorik in den Kulturwissenschaften.

Allerdings bemerkte Shortback, dass eine deutliche Verlängerung der Balkanisierung möglicherweise zu einer Phase führen könnte, die schlimmer als das Ritardando oder sogar die Krise ist – möglicherweise könnte man diese Zeit dann die Atomisierung oder die Auflösung nennen.

Gelegentlich erzählt sie davon, wie sie einmal bei einem Vortrag sagte, dass man das gesamte letzte Jahrtausend auch als Spätfeudalismus bezeichnen könnte. Anschließend kam ein Mann zu ihr und sagte: »Wie kommen Sie darauf, dass wir es mit dem späten Feudalismus zu tun haben?«

Doch die Ereignisse des Jahres 2312 lassen vermuten, dass sich im 24. Jahrhundert ein Wandel vollziehen wird.

Iapetus

Iapetus ähnelt einer Walnuss, denn er ist an den Polen eingedrückt und hat eine deutliche Erhebung rund um den Äquator, und beides ist aus dem All deutlich erkennbar. Warum er an den Polen eingedrückt ist? Irgendwann ist er mal geschmolzen und hat sich in einen großen Wassertropfen verwandelt, der so schnell rotierte, dass seine Tage nur siebzehn Stunden hatten; etwas ist an ihm vorbeigeflogen und hat ihn wie einen Kreisel in Bewegung versetzt. Noch in der Drehung ist er wieder gefroren. Und woher kommt die Erhebung am Äquator? Das weiß man nicht. Es hat irgendetwas damit zu tun, wie der Wassertropfen zu einer Eiskugel gefroren ist, da sind sich die meisten einig, irgendeine Art Auswurf oder Überschuss. Jedenfalls streiten die Saturnologen sich bis heute darum.

Was auch immer diese Erhebung verursacht hat, sie bot sich natürlich als offensichtlichster Standort für eine Stadt an, da sie zugleich als Hauptstraße fungieren konnte, die einmal um den Mond herum verlief. Die Stadt erstreckte sich zunächst vor allem über die dem Saturn zugewandte Hemisphäre, wo der Gasriese viermal so groß wie Luna über der Erde am Himmel hängt. Man war der Meinung, dass die Aussicht es allemal wert wäre, insbesondere, da Iapetus’ Umlaufbahn einen Neigungswinkel von 17 Grad zu den Ringen des Saturn aufweist, wodurch man von dort aus einen sich ständig wandelnden Blick auf dieses atemberaubende Schauspiel hat. Von fast allen anderen Monden aus kann man nur auf den Rand der Ringe blicken. Außerdem kann man von der Erhebung weit auf die restliche, zwölf bis sechzehn Kilometer tiefer gelegene Oberfläche von Iapetus sehen, die weite Eisfläche ein Pendant zu der erhabenen, beringten Perle am Himmel.

Die Farbe der Mondoberfläche hängt vom Standort ab. Die in Flugrichtung gelegene Seite von Iapetus ist ziemlich schwarz, während die gegenüberliegende Seite extrem weiß aussieht. Dieser scharfe Kontrast, der Cassini bereits im Oktober 1671 bei der Entdeckung von Iapetus auffiel, rührt daher, dass der Mond einer gebundenen Rotation unterworfen ist. Es ist immer dieselbe Halbkugel, die in die Nacht voranstürmt, und deshalb lagert sich unentwegt schwarzer Staub auf ihr ab, der vom gegenläufigen Mond Phoebe hinterlassen wird (der einzige Jupitermond außer Iapetus, der sich nicht auf der Ringebene bewegt). Im Laufe von vier Milliarden Jahren hat sich eine nur wenige Zentimeter dicke Staubschicht angesammelt. Die Rückseite von Iapetus, auf der sich das sublimierte Eis der dunklen Seite sammelt, kann hingegen das weißeste Eis im gesamten Sonnensystem vorweisen. Das Ergebnis ist ein zweifarbiger Mond, der einzige im gesamten Sonnensystem.