Ist die Gesamtheit schlicht und einfach die Praxis, also das, was wir mit uns selbst und mit der Welt anfangen? Gibt es so etwas wie eine allumfassende Lehre vielleicht überhaupt nicht, sondern nur einen Zusammenfluss? Den Zusammenfluss all unserer Felder des Denkens im menschlichen Handeln?
Zum Zeitpunkt unserer Studie bildeten all diese Fragen ein großes Durcheinander, und die verschiedenen Disziplinen hatten unterschiedliche Haltungen zu ihnen. In einigen Feldern beschränkte man sich streng auf menschliche Probleme. Man wählte diese verengte Perspektive mit Absicht, um eine Aussage über Bedeutung zu treffen. Es sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass das menschliche Leben so lange Gegenstand menschlicher Forschung sein sollte, bis wir den Punkt erreichen, an dem es uns allen gut genug geht, damit wir es uns leisten können, über anderes nachzudenken.
Einige Vertreter der Physik und anderer Disziplinen erwiderten darauf, dass viele Bereiche der Naturwissenschaften entscheidende Auswirkungen auf das menschliche Streben nach Gerechtigkeit hätten, weshalb der stärkste Humanismus aus einer Perspektive erwachsen müsse, die Physik, Biologie und Kosmologie sowie die Wissenschaft vom Bewusstsein einbezieht. Gerechtigkeit müsse teilweise als Bewusstseinszustand betrachtet werden und teilweise als ein bestimmtes physikalisches oder ökologisches Verhältnis zwischen symbiotischen Organismen.
Die anthropozentrisch Eingestellten wandten ein, dass wenn die Naturwissenschaften zu gerechten Zuständen verhelfen könnten, dies schon lang geschehen wäre. Schließlich hatten die Menschen jahrhundertelang über große Macht verfügt, und trotzdem herrschte keine Gerechtigkeit.
Die Verteidiger der Physik reagierten mit der Feststellung, dass dieses Scheitern nur daher rührte, dass man die physikalische Wirklichkeit im Allgemeinen nach wie vor aus dem Projekt der Gerechtigkeit ausschloss.
Diese spiegelbildlichen Argumente wurden lange Zeit hin und her gespielt, nicht in der Epoche des Zauderns, sondern bis zur Balkanisierung und bis zum schicksalhaften Jahr 2312. Und so blieb das Schicksal der Menschheit angesichts ihres nicht eingelösten Projekts in der Schwebe. Den Menschen war das bewusst, doch sie handelten nicht entsprechend. Der Leser mag sie dafür verachten; aber zum Handeln braucht es Mut, und auch Beharrlichkeit. Tatsächlich würde es den Autor nicht überraschen, wenn auch seine Leser in einer fernen Zukunft in einer noch immer höchst unvollkommenen Welt leben.
Swan bei den Vulkanoiden
Schließlich wählte der Rat von Terminator eine neue Löwin des Merkur. Es handelte sich dabei um eine alte Freundin von Alex und Mqaret namens Kris. Kurz nach ihrer Einsetzung bat Kris Swan darum, sich einer Reise zu den Vulkanoiden anzuschließen, die soeben vorbereitet wurde. Kris wollte Alex’ Abmachung mit den Vulkanoiden erneuern, gemäß der Terminator als Makler ihrer Lichtsendungen zu den äußeren Welten fungieren durfte. »Das war wieder mal eine von Alex’ mündlichen Vereinbarungen«, sagte Kris stirnrunzelnd, »und seit ihrem Tod und umso mehr seit dem Brand gibt es Anzeichen dafür, dass die Vulkanoiden hinter unserem Rücken Kontakte ins äußere System knüpfen. Einige von uns sind schon auf den Gedanken gekommen … weißt du vielleicht, ob Interplan gegen die Vulkanoiden im Zusammenhang mit dem Angriff auf Terminator ermittelt?«
»Ich glaube nicht.«
Swan wollte eigentlich nicht dorthin, und sie wollte auch nicht über Genettes fortlaufende Ermittlungen nachdenken, da sie derzeit voll damit beschäftigt war, den neu gestalteten Park zu bepflanzen. Aber es würde nur eine kurze Reise werden, und die Arbeit würde bei ihrer Rückkehr noch längst nicht abgeschlossen sein. Also packte sie ihre Sachen und verließ die Stadt gemeinsam mit Kris über die Plattform in der Nähe des Ustad-Isa-Kraters, wo es eine neue Schienenkanone gab, die Schiffe systemeinwärts schleuderte.
Die vulkanoiden Raumschiffe waren bauchige Dinger, schwer gepanzert und fensterlos. Auf ihren Flügen gelangten sie bis zu dem Band dreißig Kilometer großer Asteroiden, die die Sonne in einer Umlaufbahn von 0,1 astronomischen Einheiten umkreisten, also nur 15 Millionen Kilometer von dem Stern entfernt waren. Dieses nahezu vollkommen kreisförmige Halsband aus verkohlten, aber stabilen Schmuckstücken, das man im 21. Jahrhundert vom Merkur aus entdeckt hatte, war vor Kurzem besiedelt worden, obwohl auf den Sonnenseiten dieser Steine Temperaturen von bis zu tausend Grad Kelvin herrschten. Diese Hemisphären, aufgrund der Gezeitenkräfte immer der Sonne zugewandt, hatten unter der Glut der Sonne im Laufe ihrer Existenz mehrere Kilometer Fels eingebüßt. Es handelte sich um urzeitliche Objekte, die Vulkanoiden gehörten zu den ältesten Asteroiden. Inzwischen hatte man sie auf die gleiche Art besiedelt wie andere Terrarien auch – man hatte sie ausgehöhlt. Den Aushub hatte man in diesem Fall zum Bau gewaltiger runder Solettas verwendet, die das Licht einfingen. Diese Solettas wandelten das Licht in Laserstrahlen um, welche sich auf Empfängersolettas im äußeren Sonnensystem ausrichten ließen und nun wie die Ampeln Gottes an den Himmeln von Triton und Ganymed leuchteten. Die Wirkung war so dramatisch, dass mehr äußere Satellitensiedlungen nach vulkanoider Verkehrsbeleuchtung verlangten, als es Vulkanoide gab, die sie hätten liefern können.
Als ihr Sonnentaucher die Vulkan-Umlaufbahn erreichte, zeigten ihre Monitore die Sonne als einen roten Kreis und die Vulkanoiden als loses Band leuchtend gelber Punkte vor und neben dem Rot. Grüne Linien, die das per Laser verschickte Licht darstellten, zeigten von den gelben Punkten aus links und rechts aus dem Bild heraus. Auf allen Bildern nahm die Sonne einen Großteil der Monitore ein. Ein großer Feuerdrache, und trotzdem flogen sie immer weiter – tollkühn, leichtfertig – näher an der Glut, als einem Menschen guttun konnte. Es war eine Übertretung, die mit Sicherheit Strafe nach sich ziehen würde. Auf einem der Bildschirme sah die Sonne aus wie ein brennendes rotes Herz, die Sonnenzellen mit ihrer körnigen Oberflächenbeschaffenheit wie gegen die Maserung geschnittene Muskeln. Ganz sicher waren sie zu nah dran.
Von der sonnenabgewandten Seite aus gesehen war der Vulkanoid, auf den sie zusteuerten, ein nackter schwarzer Felsbrocken, ein typischer Kartoffelasteroid, umgeben von einem silbernen Schirm, der hundertmal so groß war wie er selbst. Es gab einen Punkt gegen Ende ihres Anflugs, an dem der Asteroid mit seiner Soletta die Sonne vollständig verdunkelte, sodass der verstörende Anblick der roten Sonne sich in einen dünnen Strahlenkranz mit elektrisch peitschender Aura verwandelte. Dann waren sie im Dunkel, im Schutz des Vulkanoiden-Schirms. Die Erleichterung ließ sich mit Händen greifen.
Wie erwartet waren die Menschen im Innern des Felsbrockens Sonnenanbeter. Manche wirkten wie die Sonnenläufer in der Wildnis des Merkur, sorglos und leichtsinnig. Andere sahen eher aus wie Asketen eines Mönchsordens. Die meisten waren entweder Männer oder Hermaphroditen. Sie lebten in der dichtesten möglichen Umlaufbahn um die Sonne; selbst die sogenannten Sonnentaucher stießen nur ein wenig weiter vor und kehrten dann sofort wieder um. Dichter an der Sonne konnte man nicht leben.