»Geht voran!«, rief Kiran und folgte ihnen den Hang hinab zu den offen stehenden Toren Vinmaras.
Sobald sie durch das Tor waren, ließen sie sich telefonisch zu dem Geländewagen lotsen, mit dem es Probleme gab. Er sah genauso aus wie die, mit denen sie selbst immer fuhren. Der Fahrer und drei Sicherheitsleute standen mit zutiefst unglücklichen Mienen daneben. Der Wagen stand völlig still, und ein Teil der Lieferung musste so schnell und unauffällig wie möglich ins Büro im Stadtzentrum geschafft werden. Kiran stand mit seinen Kameraden in einer kurzen Schlange und nahm eine Art großen, flachen Koffer entgegen, der ihm von einem der Sicherheitsleute durchgereicht wurde. Ihm kam in den Sinn, dass das vielleicht seine Gelegenheit war herauszufinden, was sie transportierten. Kurz darauf gingen sie wie Gepäckträger in einer kleinen Reihe durch die Straßen.
Die Stadt war praktisch verlassen, ihre Bewohner feierten immer noch draußen auf dem Hügel. Der Koffer, den Kiran trug, wog etwa fünf Kilo; für seine Größe war er nicht besonders schwer. Er war mit einem Zahlenschloss am Schließband versehen, wodurch er an eine gepanzerte Aktentasche erinnerte. Es war nicht weit bis zum Büro. Die eigentlichen Scharniere des Koffers wirkten nicht besonders stabil, und er fragte sich, was geschehen würde, wenn er ihn versehentlich auf die Scharnierseite fallen ließ.
Aber dann tauchten die drei Wachleute aus dem liegengebliebenen Geländewagen auf und schrien: »Lauft! Lauft! Sofort ins Büro!«, wobei sie furchtsam und mit gezogenen Waffen über die Schultern blickten. Alle rasten los, und Kiran, der den anderen folgte, nutzte das Durcheinander, um den Koffer anders anzupacken, sodass die Scharniere zur Seite zeigten. Als seine Freunde um eine Ecke bogen und eine schmale Gasse entlangrannten, tat er so, als stolperte er, und knallte den Koffer fest gegen eine Hausecke, genau an den Scharnieren.
Der Koffer hielt.
»Oh, Scheiße! Hast du sie kaputt gemacht?«, rief jemand von hinten – einer der Wachleute –, ein großer Chinese, der sich nun hoch aufragend und mit entsetzter Miene vor ihm aufbaute.
»Was denn, sind das Eier?«, fragte Kiran beim Aufstehen.
»So was Ähnliches«, sagte der Wachmann, hob den Koffer auf und drückte auf dem Zahlenschloss herum. »Und wenn sie kaputtgegangen sind, sollten wir lieber die Stadt verlassen.« Der Deckel ging auf, und darin lagen, einzeln in durchsichtige Behälter verpackt, ein Dutzend menschlicher Augäpfel, die allesamt Kiran anstarrten; Letzteres war purer Zufall, so vermutete er zumindest.
Auszüge (14)
Das Weltraumprojekt nahm an Fahrt auf, als deutlich wurde, dass der Erde aufgrund des Klimawandels und der allgemeinen Ausplünderung der Biosphäre schlimme Zeiten bevorstanden. Der Aufbruch ins All wirkte wie ein Versuch, alldem zu entkommen, und an diesem Eindruck war immerhin so viel Wahres, dass die Fürsprecher des Raumfahrtprojekts immer wieder seinen humanitären und ökologischen Nutzen betonen und darauf verweisen mussten, wie die im Sonnensystem verfügbaren Ressourcen der Erde vielleicht aus ihrer absurd verfahrenen Lage helfen konnten. Eine Besiedelung der anderen Himmelskörper im Sonnensystem stand unter Umständen im Einklang mit Leopolds Land-Ethik: »Gut ist, was für das ganze Land gut ist«, insofern das Zeug aus dem Weltall dabei helfen konnte, die Erde zu retten
die ersten Siedlungen auf Luna, Mars und den Asteroiden waren so teuer, dass sie als internationale oder nationale Projekte aus öffentlichen Geldern finanziert wurden. Dadurch waren sie in den Jahren des Zauderns jämmerlich schwach, doch nach der Errichtung der ersten Weltraumaufzüge blühten sie auf, und als das Accelerando begann, waren sie bereit, die Führungsrolle zu übernehmen – dem Accelerando eine Bühne zu bieten
der Mars wurde als Erster terraformt, und verglichen mit den darauffolgenden Himmelskörpern war es ein leichtes Projekt. Schon früh hatte man beschlossen, so schnell wie möglich vorzugehen. Tausende von Explosionen wurden im Regelt ausgelöst (man behauptete, dass das auch den in der Lithosphäre begrabenen marsianischen Lebensformen zugutekäme), und ein Großteil der Planetenoberfläche wurde versengt, entlang von Bahnen, aus denen später die berühmten Marskanäle entstanden. Der Verbrennungsvorgang erzeugte eine Atmosphäre, und das Eis des Planeten wurde abgebaut und geschmolzen, um ein schmales Nordmeer und die Hellas-See zu füllen. Um die ursprüngliche Oberfläche des Planeten sorgte man sich dabei nicht, doch die hoch aufragende Topografie des Planeten schützte seine am höchsten gelegenen Bereiche vor dem Großteil der Veränderungen, sodass sie als eine Art Urzeitpark erhalten blieben
es kam zu einem Massenansturm von Immigranten von der Erde, die bald zu einer vielsprachigen Gemeinschaft verschmolzen und sich nach nur zwei Generationen ihrem Wesen nach als zutiefst marsianisch empfanden, Homo Ares, und die als solche eine von Natur und Rechts wegen von der Erde unabhängige politische Einheit darstellte. Die gesamte Bevölkerung einigte sich darauf, alle Bande zur Erde abzubrechen und sich anschließend unter einer neuen Verfassung zusammenzufinden, die eine planetare Gesamtregierung sowie ein ökonomisches System vorsah, das je nach Perspektive als sozialistisch, kommunistisch, utopisch, demokratisch-staatsanarchisch, syndikalistisch, als Arbeiterkooperative oder als libertär sozialistisch oder mit anderen Begriffen aus alten Zeiten bezeichnet wurde. All diese Etiketten wurden allerdings von den marsianischen politischen Theoretikern zurückgewiesen, die die Adjektive »marsianisch« oder »ideologisch« vorzogen. Als neues sozioökonomisches System, dem eine neu erschaffene Biosphäre zur Verfügung stand, war der Mars eine soziophysikalische Macht, die es mit jeder einzelnen Erdennation oder -allianz aufnehmen konnte und aufgrund ihrer inneren Einheit auch mit dem gesamten Rest der balkanisierten Menschheit
Ängste wurden geschürt, als der Mars in der ersten Begeisterung der Unabhängigkeit begann, Stickstoff aus der Atmosphäre des Titan abzubauen, ohne sich darum zu kümmern, was die zugegebenermaßen wenigen Menschen, die bereits im Saturn-System lebten, davon hielten. Etwa zur selben Zeit (2176–2196) zerlegten chinesische Teams den Saturnmond Dione, um ihn zur Venus zu schicken, als Teil der ersten dortigen Terraformingmaßnahmen. Infolge der Kleinen Eiszeit der 2140er gab es auf der Erde keine Macht, die dazu in der Lage gewesen wäre, den Chinesen bei dieser weit entfernt gelegenen Unternehmung Einhalt zu gebieten. Allerdings regten diese beiden Ereignisse um den Saturn herum die Bildung der Saturn-Liga an, die sich mit der Zeit die Souveränität über das gesamte Saturn-System sicherte – wobei allerdings tatsächlich die Drohung eines traumatischen Saturn-Mars-Kriegs nötig war, den manche auch als Saturns Phantom eines Unabhängigkeitskriegs bezeichneten, um diese Souveränität wirklich durchzusetzen
Luna, der Mond der Erde, hat niemals die Unabhängigkeit erlangt, sondern war immer in Städte und Regionen aufgeteilt, die von den verschiedenen Erdenmächten kontrolliert wurden. Es wäre ohnehin schwierig gewesen, den Mond vollständig zu terraformen, denn hätte man ihn mit Asteroiden beschossen, ihn in Rotation versetzt und eine Atmosphäre geschaffen, dann wäre die Erde wohl unweigerlich einem potenziell sehr schweren Tektitenniederschlag ausgesetzt worden. Darüber hinaus konnte man Lunas Metalle und brauchbaren Chemikalien nur durch extensiven Tagebau und den Abbau eines Großteils der Mondoberfläche gewinnen, was das Terraforming ebenfalls erschwert hätte. So wechselten sich große, kuppelüberspannte Krater mit Atmosphärenzelten und kosmisch großen Tagebaugruben ab, und jede Nation, die in nennenswerter Weise auf Luna vertreten war, konnte sich eines beständigen Stroms von Rohmaterial erfreuen. Chinas Einfluss auf der Venus war eine unmittelbare Folge seiner frühen Investitionen auf Luna, da es sich bei dem Sonnenschild der Venus um ein Erzeugnis der dortigen chinesischen industriellen Niederlassungen handelte. Zugleich richteten zahlreiche andere Erdennationen Stützpunkte auf Luna ein, wodurch eine Unabhängigkeit des Mondes unmöglich wurde. Manche sind der Meinung, dass in dieser Entwicklung die Ursprünge der Balkanisierung begründet liegen, obwohl zumeist die Qube-Dekohärenz und die schiere Größe des Sonnensystems als Schlüssel