Er dachte auch an Leutnant Lucey, den Fünften Offizier, der beim ersten Angriff auf die Festung so große Angst gehabt hatte. Der saß irgendwo achtern in einem anderen Kutter und wartete darauf, seine Männer durch eine Mauerbresche zu führen, ohne auch nur einen Schimmer von dem zu haben, was ihn dahinter erwartete.
Und Calvert — wie würde der wohl da drüben am Berg zurechtkommen? Als Bolitho erklärt hatte, wie die Marine-Infanteristen unter Hauptmann Giffard beim letzten Angriff über den Fahrdamm vorgehen sollten, war Broughton dazwischengefahren:»Calvert kann Hauptmann Giffard die Instruktionen überbringen — wird ihm gut tun!«Und dabei hatte er seinen Flaggleutnant kalt und mitleidslos von oben bis unten gemustert.
Der arme Calvert war ganz verstört. Mit einem Midshipman und drei bewaffneten Matrosen als Bedeckung war er in der Dämmerung an Land gesetzt worden, um einen gefährlichen und mühsamen Marsch über die Berge zu unternehmen und der Marine-Infanterie ihren Gefechtsbefehl zu überbringen, die jetzt einsatzbereit sein mußte und darauf wartete, daß es losging. Giffard konnte dankbar sein, dachte Bolitho. Seine Männer hatten den ganzen Tag in der glühenden Sonne geschwitzt und gejapst, hatten nur ihre Marschverpflegung zum Essen und das bißchen Wasser in ihren Feldflaschen zum Trinken gehabt — sie waren sicher nicht in der Stimmung für halbe Maßnahmen.
Die Ruderpinne knarrte; träge hob sich das Boot über die kurzen, schnellen, kabbligen Wellen. Sie rundeten jetzt die Landzunge, und die Bucht öffnete sich, als ginge ein riesiger, pechschwarzer Vorhang auseinander.
Er hielt den Atem an. Und da war sie, die Festung. Wie ein bleicher Felsblock lag sie da, nur oben in den mächtigen Mauern war ein Fenster erleuchtet. Der Gegensatz zu den anderen dunklen Fenstern wirkte seltsam bedrohlich.
«Ganz leise, Jungs!«Er stand auf, spähte über die Ruderer hinweg, war sich der Geräusche von Boot und Wasser deutlich bewußt, auch der keuchenden Atemzüge der Männer und seines eigenen Herzschlages.
Die Strömung trug sie an die linke Seite des Forts; Gott sei Dank stimmte wenigstens eine seiner Berechnungen. Weit hinter dem Fort konnte er noch einen anderen, nadelspitzen Lichtpunkt ausmachen — vermutlich die Laterne der vor Anker liegenden Brigg. Mit einigem Glück würde Broughtons Geschwader noch vor Sonnenaufgang um ein weiteres, wenn auch kleines Fahrzeug stärker sein.
Er ließ sich auf ein Knie nieder und öffnete ganz vorsichtig den Schieber einer Blendlaterne. Nur den Bruchteil eines Zolls, und doch kam ihm das dünne Licht, das ein paar kurze Sekunden übers Wasser spielte, wie der Strahl eines mächtigen Leuchtturms vor.
Wieder stand er auf. Trotz der tiefreichenden Dünung draußen vor der Bucht, der weiten Fahrt unter den schweren Riemen und all der sonstigen irritierenden Verzögerungen waren sie genau planmäßig angekommen.
Die Festung lag jetzt schon viel näher, nur eine gute Kabellänge entfernt. Er glaubte, den dunkleren Schatten unter der Nordwestecke sehen zu können, wo der Eingang von See lag, der, wie es hieß, durch ein massives Fallgitter geschützt war. Dort würde nun sehr bald Fit-tocks Sprengladung liegen und den Weg für ihren Angriff freimachen.
Er knirschte mit den Zähnen, denn irgendwo achtern in einem der Boote klirrte es metallisch. Ein unvorsichtiger Matrose mußte mit seinem Entersäbel angestoßen sein. Aber nichts geschah; auch von den hohen, unzugänglichen Mauern ertönte kein Alarmruf.
Gott sei Dank, dachte er grimmig. Denn Broughtons Schiffe würden inzwischen weit von Land entfernt sein, und ohne richtigen Wind konnten sie nicht zu Hilfe kommen.
Etwas Weißes blitzte in der Dunkelheit auf; er dachte, es sei ein Ruderblatt, aber es war nur ein Fisch, der hochgesprungen war und klatschend ein paar Fuß vom Boot entfernt ins Wasser zurückfiel.
Als er wieder zur Festung hinsah, war sie schon ganz nahe. Er konnte in der Mauer die einzelnen Schießscharten unterscheiden und sogar die helleren Flecken, wo die Kugeln des Geschwaders ihre Spuren hinterlassen hatten.
«Auf Riemen!«Bickfords Boot glitt langsam an ihm vorbei, und die anderen schwärmten in sicherer Rufentfernung fächerförmig aus. Es war soweit.
Das einzige Boot, das noch unter Riemen fuhr, pullte stetig weiter. Leutnant Sawle stand aufrecht im Heck, eine zweite Gestalt, wahrscheinlich Mr. Fittock, der Stückmeister, stand gebückt neben ihm. Das war der wichtigste Teil der ganzen Aktion und außerdem eine Chance für Sawle, sich auf eine solche Weise auszuzeichnen, daß seine fernere Karriere in der Flotte gesichert sein würde, mochte er nun ein Leuteschinder sein oder nicht. Freilich hatte er eine ebenso gute Chance, in Stücke gerissen zu werden, wenn mit der Sprengladung etwas schiefging. Er war ein tüchtiger Offizier, aber wenn er heute nacht ums Leben kam, so würde das, dachte Bolitho, an Bord der Euryalus nur milde Trauer erregen.
«Nicht der erste, was, Captain?«murmelte Allday, und Bolitho wußte nicht: sprach er von dem möglichen Tod des Leutnants oder von dem nächtlichen Angriff überhaupt. Beides war möglich. Aber er hatte andere Dinge im Kopf.
«Wir haben noch fünf Minuten«, sagte er kurz.
Bickfords Leute ruderten jetzt rückwärts, damit das Boot nicht in der wirbelnden Strömung querschlug.
Wieder dachte er an Inch und stellte ihn sich an Bord der Hekla vor, wie er die letzten Vorbereitungen traf, um mit seinen gedrungenen Mörsern hoch über den Bergrücken der Landzunge zu feuern. Inch brauchte sich jetzt nicht mehr zu verbergen. Er konnte so viel Licht machen, wie er brauchte; in den Hügeln oberhalb seiner Position lagen die Marine — Infanteristen, die ihm nicht nur die Einschläge signalisieren, sondern ihn auch gegen unerwünschte Störer absichern würden.
>Komischer Kahn<, hatte Keverne gesagt. Die Hekla war nicht viel mehr als eine schwimmende Batterie mit gerade genügend Segelfläche, um sie von einem Einsatzort zum anderen zu tragen. Lag sie in Schußposition, so wurde sie an Bug und Heck fest verankert. Durch Anholen oder Nachlassen der einen oder der anderen Trosse konnte Inch das Schiff und damit die Zwillingsmörser ohne viel Anstrengung in den gewünschten Schußwinkel bringen.
«Mr. Sawles Boot ist unter der Mauer, Captain«, sagte Allday gespannt.
«Gut. «Er mußte sich auf Alldays Angabe verlassen, denn das Boot war nur ein tieferer Schatten vor dem dunklen Loch des Eingangs.
Ein Midshipman, der zu Bolithos Füßen hockte, gähnte lautlos.
Das war vermutlich auch eine Art, gegen die Angst anzukämpfen. Gähnen war manchmal ein Zeichen dafür.
Beruhigend sagte er:»Jetzt ist es bald soweit, Mr. Margery. Sie übernehmen das Boot, sobald der Angriff beginnt.»
Der Midshipman nickte; eine laute Antwort traute er sich anscheinend nicht zu.
Allday erstarrte.»Da — unterhalb der Mauer fährt ein Boot, Cap-tain!»
Bolitho sah die Gischt eintauchender Riemen — wahrscheinlich war die Garnison so vorsichtig gewesen, ein Wachboot patrouillieren zu lassen. Vermutlich sollte es nur einen Angriff auf die vor Anker liegende Brigg verhindern, aber im Moment war es so tödlich wie ein ganzes Regiment Leibwache.
Auf und ab schwangen die Riemen, tauchten mit ermüdender Gleichmäßigkeit ins Wasser, und an dem grünlichen Leuchten um den Bug war das Näherkommen des Bootes besser zu verfolgen als bei
Tageslicht.
Jetzt hielt die taktmäßige Bewegung inne; die Ruderer hatten sich wohl auf die Riemen gelegt, um sich auszuruhen und sich von der Strömung weitertreiben zu lassen, bevor sie die nächste Runde ihrer Patrouille begannen.
«Jetzt müßte Mr. Sawle seine Ladung eigentlich gelegt haben«, murmelte Allday.
Und wie als Antwort auf seine leisen Worte sprühte es auf: ein Licht wie ein helles rotes Auge unter der Mauer — Fittock hatte die Lunte gezündet. Das Wachboot konnte es nicht sehen, weil die Mauerecke davor war; aber sobald Sawles Leute aus dem Mauerschatten traten, mußte Alarm gegeben werden.