Aber es war Giffards Stimme! Tausendmal hatte Bolitho sie auf dem Achterdeck beim Exerzieren und bei militärischem Zeremoniell gehört. Der dicke, bombastische, wichtigtuerische Giffard, der Mann, der nichts lieber tat, als seine Seesoldaten vorzuführen. So wie jetzt.
Seine Stimme schmetterte wie eine Trompete, und obwohl er hinter einem Torbogen stand, meinte Bolitho, ihn ganz deutlich vor Augen zu sehen.
«Marine — Infanterie zur — Attacke! Das Zentrum, Laufschritt marsch — marsch!»
Und dann war alles so schnell vorbei wie ein Alptraum. Die MarineInfanteristen standen in tadelloser Uniform, die Bajonette tödlich glitzernd im Laternenlicht, das Lederzeug kreideweiß gegen die schattenhafte Umgebung. Hinter ihnen folgte das zweite Glied, lud in präzisem Gleichmaß die abgeschossenen Musketen, und Boutwood, der Feldwebel, stampfte mit seiner Halbpike den Takt dazu.
Musketen klirrten aufs Kopfsteinpflaster, und fast dankbar drängten sich die Spanier auf den Stufen zusammen; aller Kampfgeist war von ihnen gewichen.
Giffard knallte die Hacken zusammen.»Abteilung — halt!«Dann machte er kehrt und hob mit einem Schwung, der König George selbst begeistert hätte, den Degen auf Nasenhöhe.
Es war auf einmal ganz still, und wiederum gruben sich Bolitho ein paar besondere Details ins Bewußtsein — wie Teile eines Teppichmusters: Giffards knarrende Stiefel. Sein nach Rum riechender Atem. Ein verwundeter Matrose, der ganz langsam, wie ein Vogel mit zerschossenen Flügeln, in den Lichtkreis der Laterne kroch.
«Bitte melden zu dürfen«, bellte Giffard,»Marine-Infanterie zur Stelle! Keine Verluste, alles planmäßig!«In sausendem Bogen senkte sich sein Degen.»Erbitte weitere Instruktionen, Sir!»
Sekundenlang sah Bolitho ihm in die Augen.»Danke, Hauptmann Giffard. Aber hätten Sie mit Ihrem Angriff nur noch ein bißchen länger gewartet, dann wäre Ihnen, fürchte ich, das Tor wieder vor der Nase zugeschlagen worden.»
Giffard wandte den Kopf nach seinem Leutnant, der die Übernahme der Gefangenen beaufsichtigte.»Hörte Detonationen, Sir. Sah Musketenfeuer auf Brustwehr und habe — äh — zwei und zwei zusammengezählt. «Es klang etwas beleidigt.»Konnte Sie das Fort doch nicht allein erobern lassen, ohne meine Marine-Infanterie, Sir. Waren schließlich den ganzen Tag da draußen in der blutiggottverdammten Sonne!»
«Was denn — Sie haben keinen Angriffsbefehl bekommen?»
Er schüttelte den Kopf.»Nichts. Hörten Musketenfeuer unten am Strand, aber da ist alles voll lausiger Marodeure. Mußte sogar heute nachmittag einen hängen lassen. Wurde lästig, wollte unsere Rationen klauen!»
«Aber Leutnant Calvert sollte doch zu Ihnen stoßen und Sie über unseren Angriff informieren.»
Giffard zuckte die Achseln.»In Hinterhalt geraten, wahrscheinlich.»
«Wahrscheinlich. «Bolitho versuchte, nicht an Calverts Angst zu denken.
Giffard musterte die erschöpften, keuchenden Matrosen.»Sie ha-ben's ja anscheinend auch ohne unsere Hilfe ganz gut geschafft, Sir. «Er grinste.»Aber wenn's wirklich ernst wird, sind richtige Disziplin und kalter Stahl das Allerbeste!»
Bolitho blickte zu den Mauern empor — fast jedes Fenster, jede Schießscharte war erleuchtet. Bis Sonnenaufgang gab es noch eine Menge zu erledigen. Er rieb sich die Augen und merkte dabei, daß er seinen Degen noch immer fest in der Hand hielt. Die Finger taten ihm richtig weh, als er die Klinge in die Scheide steckte. So weh, als könnten sie den Griff nie mehr loslassen.
«Sichern Sie die Gefangenen«, sagte er,»und lassen Sie die Verwundeten in die unteren Räume schaffen. Bei Sonnenaufgang kommen die Hekla und die Coquette in die Bucht, und bis dahin ist noch ungeheuer viel zu tun.»
Klirrend lief Bickford die Stufen hinunter und faßte an den Hut.»Kein Widerstand mehr, Sir. «Da sah er den toten Lucey, aus dessen Rücken immer noch das Bajonett ragte, als wäre er an den Erdboden genagelt.»Mein Gott!«flüsterte er mit bebenden Lippen.
«Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Mr. Bickford. «Langsam ging Bolitho zur Treppe, innerlich noch gespannt wie die Abzugsfeder einer Pistole.»Da Sie jetzt der einzige überlebende Leutnant sind…»
Bickford schüttelte den Kopf.»Nein, Sir. Mr. Sawle ist in Sicherheit. Ihre Kommandantengig hat ihn und Mr. Fittock aufgenommen.»
Bolitho wandte sich um und blickte auf den toten Lucey herab. Merkwürdig, daß in dieser Welt immer die Sawles überlebten, während andere. Er riß sich aus seinen Grübeleien und befahl kurz:»Kümmern Sie sich um die Verwundeten. Dann die Boote zurückrufen! Die ankernde Brigg sorgfältig bewachen, damit sie nicht in der Nacht entwischt!»
«Man hat sie vielleicht angebohrt, Sir.»
«Glaube ich nicht. Hier in Djafou? Das einzige Schiff, das sie haben?»
Irgend etwas hielt ihn immer noch hier, auf diesen blutbespritzten Stufen, und er sollte doch schon längst drinnen sein, in der Festung. Er mußte mit dem Garnisonkommandeur sprechen und zahllose andere Einzelheiten erledigen, ehe das Geschwader kam.
Giffard schien seine Gedanken zu lesen. Und das war ebenfalls merkwürdig, denn nie hatte Bolitho ihm irgendwelches Einfühlungsvermögen zugetraut.»Soll ich ein paar Mann losschicken und Leutnant Calvert suchen lassen, Sir?«Er wartete auf Antwort und wiegte sich in knarrenden Stiefeln.»Einen Halbzug hätte ich allenfalls für ein paar Stunden übrig.»
Bolitho stellte sich Calvert mit seinen vier Begleitern vor — irgendwo in der Finsternis, verschreckt, hilflos. Besser wären sie tot, als daß sie den marodierenden Beduinen in die Hände fielen, von denen Draf-fen gesprochen hatte.
«Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Aber setzen Sie das Leben Ihrer
Leute nicht sinnlos aufs Spiel, Hauptmann Giffard«, schloß er widerstrebend.
Der Marine-Infanterist erwiderte gravitätisch:»Meine Leute tun, was befohlen wird, Sir. «Dann grinste er, als amüsiere er sich über seine eigene Angeberei.»Ich schicke sie sofort los.»
Im mittleren Turm befanden sich vor allem die Unterkünfte der Offiziere, von denen drei ihre Frauen bei sich hatten. Während Bolitho vorsichtig über Steinbrocken, allerlei persönliche Habe, Kleidungsstücke und dergleichen nach oben stieg, fragte er sich, was eine Frau in der Gluthitze von Djafou wohl für ein Leben führen mochte.
Das Quartier des Kommandeurs befand sich ganz oben und hatte Ausblick über die Bucht und den schnabelförmigen Landvorsprung.
Er saß in einem hochlehnigen Sessel und wollte aufstehen, als Bo-litho, gefolgt von Allday, ins Zimmer trat. Er trug einen elegant gestutzten grauen Bart, aber sein Gesicht hatte die Farbe ausgeblaßten Pergaments; wahrscheinlich hatte er mehrere schwere Fieberattacken hinter sich. Er war ein alter Mann mit runzligen Händen, die kraftlos auf den Armlehnen des großen Sessel ruhten, und hatte diesen Kommandeursposten vermutlich bekommen, weil niemand, auch er selbst nicht, ihn haben wollte.
Glücklicherweise sprach er gut englisch. Seine leise, kultivierte Stimme wirkte in dieser grimmen, kompromißlosen Umgebung fehl am Platze.
Bolitho hatte bereits von Bickford gehört, daß er Francisco Alava hieß und früher Oberst bei den Leibdragonern Seiner Katholischen Majestät des Königs von Spanien gewesen war. Und jetzt hatte er bis zu seinem Todestag die trübseligste Garnison in der Kette der spanischen Mittelmeerbesitzungen befehligen sollen. Bolitho nahm an, daß er einmal einen geringfügigen Bruch der Etikette begangen oder sich sonstwie falsch benommen hatte und deswegen auf diesen Posten abgeschoben worden war.
«Es wäre mir angenehm, wenn Sie mir Ihr Quartier für den Augenblick überlassen würden, Colonel Avala«, sagte Bolitho höflich.
Zitternd hoben sich die beiden Hände und fielen auf die Armlehnen zurück. Krankheit, Alter, die schrecklichen Detonationen von Inchs Mörsern hatten seinen an sich schon geringen physischen Reserven hart zugesetzt.